Marcus Scholz

20. Mai 2019

 

 

Tag eins nach dem letzten Spiel der Saison 2018/2019 - oder doch eher Tag eins auf dem Weg in die Saison 2019/2020? Ich würde letzteres bevorzugen, da alles, was mit der gerade abgelaufenen Saison zu tun hat, irgendwie negativ behaftet ist. Und trotz des 3:0-Sieges gegen den MSV Duisburg zeigte sich das gestern auch noch einmal. Immer wieder mischten sich Pfiffe in den Applaus. Bei Lasoggas Einwechslung war das noch nicht allzu deutlich. Dafür aber bei Gotoku Sakais Einwechslung umso mehr. Der Japaner, der zweifellos (wie so viele andere auch!) erneut eine schwache Saison gespielt hat, fühlte sich auch heute noch schlecht. „Ich bin schon enttäuscht. Sich einen Spieler herauszupicken ist schon fragwürdig“, sagte der ehemalige Kapitän heute nach dem abschließenden Frühstück mit der Mannschaft, ehe er sich wie alle anderen auch in die Sommerpause verabschiedete. Ob er bleiben würde, nachdem es zuletzt immer wieder hieß, der HSV würde ihn zum Verkauf freigeben? Sakai: „Was meine Zukunft betrifft, ist alles offen.“

Und unabhängig davon, dass Sakais Leistungen auf dem Platz zu wünschen übrig ließen, muss ich hier mal eine Lanze für den Japaner brechen. Und damit offenbart sich sogar das vielleicht größte Problem in dieser Mannschaft. Denn genau wie beispielsweise Gideon Jung und Fiete Arp zählt auch er zu denjenigen, die dem HSV unbedingt helfen wollten - aber sportlich daran zerbrachen. Er hatte die richtige Einstellung, aber es fehlte ihm die sportliche Qualität und das funktionierende Umfeld. Und das, obgleich er alle Zutaten hat, die ein wirklich guter Kicker braucht: Technik, Spielverständnis, Laufstärke und vor allem die Einstellung - mal abgesehen vom Kopfballspiel und der Torgefahr bringt der Japaner tatsächlich alles mit, um dieser HSV-Mannschaft zu helfen. Auch in der Kabine bringt sich Sakai immer wieder positiv ein und erhielt auch deshalb von seinen Mannschaftskameraden, die die Pfiffe verurteilten, gestern nach Spielschluss ausnahmslos loyale Unterstützung. „Das war sehr schade. Go wird leider falsch gesehen. Er ist in Wirklichkeit ein absoluter Teamplayer, sehr selbstkritisch, und er bringt sich immer zu 100 Prozent ein“, so Tom Mickel traurig, „diese Pfiffe waren schon extrem hart. Er hat diesen Umgang so definitiv nicht verdient.“

Muss er vielleicht auch nicht mehr lang. Lasogga, Holtby, Arp, Hwang und Mangala werden sicher gehen. Höchstwahrscheinlich auch Leo Lacroix. Alle sechs wurden heute verabschiedet. Und spätestens seit gestern dürfte nahezu sicher auch Sakai gehen. Dazu kommt der Verlust des mit Abstand besten HSVers Douglas Santos, der schon vor dieser Saison wechseln wollte - und jetzt wohl schon aus finanziellen Gründen wechseln muss. Immerhin gelten die Einnahmen aus seinem Verkauf als die Basis aller Transfervorhaben. Auch wenn die in der bisherigen Form noch nicht dafür sprechen, dass sich der HSV realistisch die hohen Ziele setzen kann, die von Bernd Hoffmann und Ralf Becker in der vergangenen Woche ausgegeben worden waren. Stichwort Wiederaufstieg.

 

Auch mit Lukas Hinterseer, der in den kommenden Tagen einen Dreijahresvertrag unterschreiben soll, wäre man nominell noch nicht viel stärker. Dazu gesellt sich der Sandhauser Angreifer Andrew Wooten, mit dem der HSV bereits vor Wochen das erste Gespräch geführt hat und der seinerseits ebenfalls kein Sprinter ist. Viel mehr Tempo, worauf ich ehrlich gesagt am meisten gehofft hatte, bringen also beide potenziell neuen Angreifer nicht mit. Und wenn ich die abgelaufene Saison als Maßstab nehme, fällt auf, dass es in der Zweiten Liga immer wieder auf Schnelligkeit ankommt. Bestes Beispiel dafür ist der fußballerisch vergleichsweise limitierte, dafür umso schnellere HSV-Außen Bakery Jatta. Er war über die gesamte Saison gesehen zweifellos der einzige echte Lichtblick. Oder wie es meine Kollegen vom Abendblatt heute schon schrieben:

„Der einzige Hamburger, der in diesem Jahr besser geworden ist.“

Und das war Jatta, den ich damit nicht einen Millimeter schwächer sprechen will, ganz sicher auch aus Mangel an Alternativen. Insbesondere im Angriff, der bezeichnend für die selbstzerstörerische Kraft dieses HSV und sein Umfeld steht. Was ich meine: Zu Saisonbeginn hatte Trainer Christian Titz Angreifer Pierre Michel Lasogga immer wieder auf der Bank gelassen und damals gesagt, dass Lasogga zum Toptorjäger werden könne, wenn er Geduld habe. Was er meinte: Wenn Lasogga in dem Moment ins Spiel kommt, wo der Gegner langsam müder wird, ist er am effektivsten. Eine Sichtweise, die der Vorstand ebenso wie das freundschaftlich gesinnte angegliederte Boulevardblatt öffentlich aufs Schärfste kritisierten. Mehr noch: Lasogga wurde zu einem Politikum hochstilisiert, um den öffentlich beliebten Trainer zu stürzen. Dass sich ausgerechnet die Kritiker von damals gestern auf der Tribüne besonders lautstark über die mangelnde Qualität ausgerechnet von Lasogga mokierten und der Vorstand Lasoggas Vertrag seinerseits nicht verlängerte - es passt zu den vielen Fehleinschätzungen der HSV-Verantwortlichen und ihrem direkten Umfeld. „Es geht um das Beste für den HSV“, wurde damals wie heute argumentiert - in Wirklichkeit aber argumentiert man einfach immer nur so, wie man es für sich selbst gerade am besten braucht. Das ist neu. Das ist schon länger so - und das hat sich leider auch 2018/2019 nicht verbessert. Im Gegenteil. Politik, Machterhalt und Jobsicherung stehen wieder weit über dem Wohl und dem Erfolg des HSV.

Man könne von seinen Spielern nur erwarten, was man selbst auch vorlebt, hatte Hannes Wolf bei seinem Amtsantritt in Hamburg gesagt. Und damit hat er den Kern getroffen. Wie so oft in seinen fachlich ausgewogenen, guten Analysen, deren Schlüsse er zu selten auf seine Mannschaft übertragen konnte. Wolf fehlte dafür der emphatische Teil großer Motivatoren. Dass er zudem als frisch (oder „vielleicht“) entlassener Trainer in das entscheidende Paderborn-Spiel gehen musste, stärkte seine Position nicht. Und wer Wolf in den letzten Tagen genauer beobachtet hat, der hat bei dem Coach eine Form der Erleichterung ausmachen können. Trotz aller Enttäuschung, gescheitert zu sein, dürfte Wolf heute froh sein, aus diesem politisierten HSV-Konstrukt (bezahlt) auszuscheiden. Er war wie so viele Vorgänger vor ihm schlichtweg nicht mehr Herr des sportlichen Geschehens.

Und hier liegt die Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass es der HSV schafft, eine Mannschaft zusammenzustellen, die wenigstens den Charakter hat, sich in jedem Spiel zu 100 Prozent reinzuhauen. Es wäre schon mehr als man diese Saison hatte. Dass Jatta, Ersatzkeeper Tom Mickel oder auch Manuel Wintzheimer als positive Erscheinungen gelten - bezeichnend. Nein, dieser HSV braucht einen Trainer, der Charakter ebenso weit oben auf seiner Prioritätenliste hat wie eine mutig-offensive Kaderzusammenstellung und Motivation. Der neue Trainer darf nicht der Typ Laptoptrainer sein, sondern muss die Empathie besitzen, auf Stimmungen in der Mannschaft einwirken zu können. Dafür braucht er Authentizität. Alles zusammengerechnet entsteht so eine Autorität, die ihn vor der voraussichtlich wieder sehr jungen Mannschaft vorangehen lässt. Und das glaubhaft. Der Trainer könnte so tatsächlich zum Gesicht des Neuanfanges werden. Und dafür müsste er nicht zwingend jung im Geschäft sein. Er müsste schlichtweg den Mut haben, hier beim HSV neue Wege einzuschlagen. Denn alles, was neu ist, ist im Zweifel erst einmal besser als das, was hier aktuell ist und sich seit Jahren wiederholt.

Es werden in den nächsten Wochen viele Trainernamen gehandelt werden, die zum HSV kommen könnten. Und sie werden dafür sorgen, dass die Fans erst einmal wieder in eine Art Euphorie versetzt werden. Denn der Fan an sich sieht oft, was er sehen will. Gepaart mit dem Umstand, dass man „seinem HSV“ ewige Treue geschworen hat entsteht ein leicht zu manipulierender Typus, der feiert, was noch nicht nachhaltig versagt hat. Also im Grunde alles, was neu ist Insofern wird es auch dieses Mal wie immer sein: Der HSV holt ein paar neue Spieler, die den gefühlt 137. Neuanfang darstellen und umsetzen sollen. Allerdings diesmal „in echt“ und mit „Doppelschwör“! Dazu kommt noch neuer Trainer, von dem man (trotz interner Kontroversen) zu 1.000.000.000  Prozent überzeugt ist. Zumindest bis der vorgegebene Erfolg - und hier hat man sich nicht lumpen lassen und einfach mal wieder völlig unnötig das Maximum ausgerufen - gefährdet ist. Wie schnell das gehen kann haben wir in dieser Saison miterlebt, wo der HSV nach zehn Spieltagen Entscheidung traf, weil man sie einfach treffen wollte. „Aus persönlichen Gründen“, wie es ehrlich hätte heißen müssen, wurde „zum Wohle des HSV“ und "weil man die Ziele gefährdet" sah. Ich finde, allein dieser Vorgang beschreibt den HSV in seiner weiterhin fragilen Struktur sehr treffend.

Aber Kritik allein ist nur die Hälfte wert, wenn man nicht auch Lösungsvorschläge hat. Und mein erster Ansatz wäre, möglichst schnell einen neuen Trainer zu holen, der die Traute hat, seine klare Philosophie durchzuziehen. Und davon gibt es einige. Dazu gehört aber auch zwingend, dass dieser Trainer auch den Kader dementsprechend mit dem Sportvorstand zusammenstellt. Es muss endlich Schluss sein mit den Alibis, man habe den Kader ja so vorgefunden und zu wenig eigene Ideen einbringen können. Denn ich behaupte, dass beim HSV in den letzten Jahren viele Trainer waren, die erfolgreich hätten arbeiten können, wenn das direkte Umfeld gestimmt hätte und sich nicht jeder Entscheidungsträger im Verein wichtiger nimmt als den anderen.

Es wird Zeit, vorhandene Strukturen zum leben: Der Aufsichtsrat hat den Vorstandsvorsitzenden berufen, der Vorstandsvorsitzende den Sportvorstand. Dieser wiederum hat den Trainer und mit diesem im Doppelpass die Mannschaft zusammengestellt bzw. so zusammen gelassen. Geht es unten in dieser Hierarchie schief, muss das Kontrollgremium abwägen, ob der Misserfolg den vorgegebenen Umständen oder der Arbeit seiner jeweiligen Entscheidungsträger geschuldet war. Soll heißen: Solange beim HSV Misserfolge immer wieder dazu führen, dass lediglich der Letzte in der Nahrungskette gehen muss/geopfert wird, während die Entscheidungsträger unverändert weitermachen, wird das nichts. Oben lebt vor, was unten gemacht werden muss. Dafür muss ein Trainer gefunden werden, der zur Mannschaft passt -  und natürlich andersrum. Und dafür müssen Vorstand und Trainer passen.

Es muss also (zumindest inhaltlich eine) Einheit geschaffen werden, die es zuletzt so nicht gab. Denn Hannes Wolf war zwar bis zum Schluss der Wunschkandidat des Vorstandes. Aber er trainierte eine Mannschaft, die auf den (Ballbesitz-)Fußball von Titz ausgerichtet zusammengestellt und im Winter nicht ausreichend korrigiert worden war, um Wolfs Umschaltspiel durchzusetzen. Wenig verwunderlich daher, dass Wolfs Fußball nur so lange erfolgreich war, wie er taktisch noch nah am Titz-Fußball spielen ließ.

Im Ergebnis hat der HSV in der vergangenen Saison zwei Trainer gehabt, die beide die Qualität hatten, den Aufstieg zu schaffen - behaupte ich. Zwei gute Trainer, die aber eben nur dann funktionieren, wenn sie ihre Mannschaft auf ihr System hin zusammenstellen können bzw. wenn man ihnen ausreichend Zeit gegeben hätte. So, wie es für wahrscheinlich alle Trainer gilt. Auch deshalb noch einmal meine eindringliche Bitte: Findet schnellstmöglich den neuen Trainer. Bevor der Kader wieder komplett zusammengestellt ist und am Ende nicht zum Trainer passt. Denn dann scheitern auch die besten Trainer an den schwierigsten Umständen.

Zum Abschluss noch einmal der Hinweis auf die vom HSV gerade veröffentlichten Verabschiedungen. Offiziell gehen müssen Pierre-Michel Lasogga, Lewis Holtby (beide noch ohne Verein) und Fiete Arp (FC Bayern) sowie die Leihspieler Orel Mangala (VfB Stuttgart), Léo Lacroix (AS Saint-Etienne) und Hee-Chan Hwang (Red Bull Salzburg). Als Dank bekamen sie neben warmen Worten eine Foto-Collage von Sportvorstand Ralf Becker überreicht. Und auch wir sagen von dieser Stelle: Alles Gute!

 

In diesem Sinne, bis morgen!

Scholle

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