Marcus Scholz

3. November 2017

Auch heute wurde wieder unter Ausschluss der Öffentlichkeit trainiert, bzw. sich bewegt. 40 Minuten lang. Und wie so oft war das Abschlusstraining vor dem Spieltag auch heute kaum mehr als aktivere Erholung (siehe Video), bei dem hier und da noch letzte taktische Kniffe einstudiert und gefestigt werden sollen. Große Geheimnisse werden dabei zwar nicht offenbart, aber die gibt es vor dem Spiel gegen Stuttgart eh nicht mehr. Denn morgen heißt es tatsächlich: Siegen ist Pflicht. Alles andere wird zu einer verstärkten Trainerdiskussion führen, nein: Es würde nahezu sicher einen Trainerwechsel nach sich ziehen. Und das weiß HSV-Trainer Markus Gisdol, der deutlich angeschlagen wirkt, der aber noch kämpft. Er weiß es schon lange.

Gisdol, das muss man dazu sagen, ist ein Typ, den man nicht auf den ersten Blick ins Herz schließen muss. Er wirkt etwas kühl, distanziert und es bedarf einer Weile, damit er mit einem – und man selbst mit ihm – irgendwie warm werden kann. Aber von Anfang an wird bei ihm klar, dass Gisdol kein Träumer ist. Er kennt es, eben noch gefeiert und kurz danach vom Hof gejagt zu werden. Emotionen leiten ihn eher selten. Auch beim HSV hat er sich nie irgendwelchen Träumereien hergegeben. Der Trainer ist vom ersten Tag an einen Weg gegangen, den er auch jetzt noch durchzieht. Selbst Ankündigungen wie zuletzt die härtere Gangart führten nicht zu aktionistischen Handlungen. Und was der eine – wie ich in Sachen Training/Individualtraining immer wieder – bei Gisdol als Beratungsresistenz kritisiere, ist für ihn nur konsequent. Dafür misst er sich selbst an seinen Maßstäben und weiß, dass er nach den letzten acht Spielen mit nur einem Punkt als in diesem Zeitraum schlechtestes Team der Bundesliga zur Verantwortung gezogen wird, wenn es weiter schiefgeht. Und so nervig es auch sein muss, immer wieder auf seine bevorstehende Entlassung angesprochen zu werden, Gisdol lächelte die Fragen weg und blieb ruhig. Höflich-gefasst. „Wenn Du so lange nicht punktest, kommt diese Diskussion automatisch. Da müssen wir uns nichts vormachen“, hat Gisdol in den letzten Tagen immer wieder gesagt.

Allerdings, wenn man behauptet, dass Gisdol gegen Stuttgart auf die jungen Talente setzen würde, weil das von ihm so erwartet würde, dann kann er ungemütlich werden. So, wie er es im Sommer war, nachdem der HSV von ihm eine Liste mit 20 Spielern vorgelegt bekommen hatte, deren Ablösesummen sich im unteren Millionenbereich bewegten – und davon keiner geholt werden konnte. Die Transferbemühungen stockten und führten zu einem von Respekt aber auch klarer Message geprägtem Gespräch zwischen Trainer und Investor Klaus-Michael Kühne. Mittendrin und irgendwie kaum dabei: Sportchef Jens Todt, der sich wie ein Mittelfeldspieler beim HSV vorkommen musste. Ständig flogen die Bälle über ihn hinweg. Nach vorn, nach hinten, wieder nach vorn, wieder nach hinten – nur wirklich einbringen konnte sich Todt trotz seiner Position als Sportchef dabei nicht. Gisdol war in dem Konstrukt schon der stärkere, der aktivere Mann – was allerdings auch nicht für Todt spricht...

Trotzdem gingen nach der Sommertransferphase alle Beteiligten zusammen nach draußen und redeten die Dinge schöner als sie waren/sind. Sie verkündeten, dass sie alles geschafft hätten, was sie schaffen wollten. Auch Gisdol, der trotz seiner umgesetzten Wünsche Papadopoulos, Hahn und van Drongelen unzufrieden war und das intern deutlich gemacht hatte. Um selbst einen letzten Versuch zu starten, schrieb er sogar Investor Kühne nach dem Pokal-Aus, dass er befürchte, dieser Kader sei qualitativ und quantitativ nicht ausreichen besetzt – dabei immer nett in die Kamera lächelnd der Öffentlichkeit erklärend, dass man zufrieden sei mit dem Kader. Er wollte die eh schon schwache Mannschaft nicht zusätzlich schwächen.

Das Ergebnis sehen wir anhand der Tabelle – und das ist nicht unerwartet. Hier hieß es zwar ebenfalls schöngeredet, das Team wäre aktuell weiter als letzte Saison. In Wahrheit aber hat der HSV spielerisch sogar noch mal an Qualität eingebüßt und in dieser Spielzeit die höchste Fehlpassquote aller Teams (25 Prozent, der VfB liegt bei 14 Prozent). Zudem ließ der HSV in der Defensive schon 20 Großchancen zu (Liga-Höchstwert). Ergo: Hinten pfui, vorne pfui – das ist keine erfolgversprechende Mischung. Zum Vergleich: Der VfB hat nur acht Großchancen zugelassen (einzig Bremen hatte vor dem heutigen Spiel noch weniger).

Beim HSV stimmt es hinten wie vorne nicht. Auch deshalb setzte Gisdol so vehement auf Zusammenhalt, auf Teamgedanken und Kampfgeist – sich mit einschließend. Eben auf alles das, was man fehlender Qualität entgegensetzen kann. Und das funktioniert auch – es reicht nur nicht. „Wir haben einen sehr guten Zusammenhalt, eine tolle Kabinenatmosphäre und sind fit. Wir geben alles, um da unten wieder rauszukommen“, sagt Andre Hahn, der für mich sinnbildlich ist für das, was sich sportlich beim HSV (leider nicht) abspielt. Denn Hahn ist ein richtig guter Typ, einer, der alles gibt. Immer. Im Training, im Spiel – und in der Kabine. Und obwohl er in jedem Spiel Kilometer abreißt wie kaum ein anderer, ist er sportlich enttäuschend. Seit Wochen und ohne, dass es Außenstehende wirklich überrascht.

Und jetzt steht Hahn auch noch Jann Fiete Arp um Weg – überspitzt formuliert. Und auch nur eventuell. Denn nachdem Bobby Wood seine Chancen hatte und ungenutzt ließ, während Arp in Berlin reinkam, traf und begeisterte, schien alles klar für den 17-Jährigen Juniorennationalspieler. Gegen Stuttgart wird er von beginn an stürmen. Da sind sich alle einig. Bis auf Gisdol. Der überlegt noch, ob er zentral vielleicht sogar auf Hahn setzt. Oder eben, wie alle es erwarten, auf Arp. Passend zu dieser Diskussion: Heute im Training war einer besonders aktiv und auffällig, den Gisdol schon länger nicht mehr oben auf seinem Zettel hatte: Luca Waldschmidt. Und zurecht schaffte es der junge Offensivmann so in den Kader für morgen.

Apropos Angriff: In den letzten acht Spielen schoss der HSV nur drei Tore. Kein Hamburger erzielte mehr als ein Saisontor, kein Hamburger bereitete mehr als ein Tor vor! Hat man auch nicht oft. Zudem blieb der HSV zuletzt erstmals in seiner Bundesliga-Historie vier Heimspiele in Folge ohne Treffer. Das einzige Heimtor in dieser Spielzeit war das 1:0 gegen den FCA. Und jetzt hoffen alle, dass Arp bei seinem Startelfdebüt in der Bundesliga diesen Bann durchbricht und die Offensive auch effektiv macht. Bei der jüngsten U-17-WM in Indien war er an sieben der zehn Treffer Deutschlands beteiligt (fünf erzielt und zwei vorbereitet – unter anderem war er viermal zum 1:0 erfolgreich) und wurde zuletzt in Berlin zum ersten 17-Jährigen, der für den Dino traf (er löste Heung-Min Son als jüngsten Torschützen der Hamburger ab, ligaweit ist er der siebtjüngste). Arp nutzte gleich seinen ersten Torschuss in der Bundesliga und war in Berlin (obwohl nur 34 Minuten als Joker im Einsatz) der HSV-Spieler mit den meisten Abschlüssen (3). Sowas nennt man eine „Empfehlung für mehr“.

Dennoch, so sehr Gisdol sich über Arp freut, es widerstrebt seiner Art, aus dem Youngster den auserkorenen Retter zu machen. Mehr noch: Arp könnte für ein Jubiläum sorgen, denn ein Sieg gegen den VfB wäre der 500. Heimsieg der Bundesliga-Historie des HSV. Diese Marke haben bislang nur die Bayern (661 Heimsiege) und Werder Bremen (514) erreicht. Die Stuttgarter stehen übrigens nach dem Sieg gegen den SC Freiburg auch bei 499 Heimsiegen.

Heute im Abschlusstraining war nicht viel zu erkennen. Außer, dass früh Schluss war. Dachten wir. Mal wieder, ohne einen einzigen Standard geübt zu haben – sofern eine kleine Splittergruppe, die früher ins Stadion ging, dort nicht heimlich und in kleiner Gruppe Standards geübt hat. Dabei kassierte der HSV zuletzt bei der Hertha (1:2) beide Gegentore nach einem Eckball und beide per Kopf. Zwei Gegentreffer nach einer Ecke hatte es für den HSV zuletzt im August 1999 gegeben. Schlimmer noch: Bei fünf der sieben Saisonniederlagen musste der HSV zumindest ein Standardgegentor hinnehmen – obgleich man das sehr gut üben kann. Üben könnte. Und sicher auch üben müsste, denn der VfB erzielte per Kopf nach Standards drei seiner neun Saisontore.

Ob der HSV gegen den VfB im eigenen Stadion wieder mit Fünfer- oder doch wieder mit der Viererkette beginnt, ist offen. Trainer Gisdol ließ zwar Viererkette trainieren, agierte bei seinem Spielformen im Training aber zumeist in Turnierform, wo nicht wirklich zu erkennen war, wer mit wem zusammen spielte. Auch der heute extra vom VfB abgestellte Scout konnte nicht viel erkennen. Zudem sprach Gisdol heute im Training, wo Keeper Julian Pollersbeck krank fehlte (für ihn rückt Tom Mickel in den Kader), länger mit Ekdal unter vier Augen. Weil er dem eigentlich bei ihm gesetzten Schweden eine Pause gönnt? Ich glaube es nicht. Stattdessen wette ich darauf , dass Gisdol morgen personell irgendwie überraschen wird. Mein Tipp: Mavraj fliegt aus der Startelf, der HSV stellt wieder auf 4-2-3-1 um: Mathenia – Diekmeier, Papadopoulos, van Drongelen, Santos – Ekdal, Sakai – Ito, Hunt, Kostic – Arp. Ich bin auf jeden Fall gespannt.

In diesem Sinne, bis morgen! Ich wünsche Euch allen einen schönen Freitagabend, ein ansehnliches und vor allem erfolgreiches Spiel morgen. Ich melde mich anschließend aus dem Stadion wieder bei Euch!

 

Bis dahin!

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