Marcus Scholz

11. April 2020

Er hat es gerade noch geschafft. Bis vor einer Woche war Frank Pagelsdorf noch in den USA. Er hat nach etlichen Corona-bedingten Umbuchungen und gestrichenen Flügen noch einen der letzten Flüge nach Deutschland bekommen. „Wir hatten wirklich großes Glück“, erinnert sich der Ex-HSV-Trainer, „denn die nächsten Wochen in den USA werden dramatisch. Das, was sich bisher abgespielt hat ist nur ein Bruchteil dessen, was da noch kommen wird. Das US-Gesundheitssystem wird noch sehr viele Opfer fordern. Leider“, so Pagelsdorf, der sich an seine letzten Tage vor dem Heimflug erinnert: „Wir wussten ja schon vorher, dass Trump ziemlich viel Blödsinn erzählt. Aber ihn täglich auf allen Kanälen zu hören hat mich erschüttert. Da werden Bilder von zigtausend Toten in seinem Land gezeigt, während er sich über Corona lustig gemacht und darüber philosophiert hat, dass die Einschaltquoten bei ihm besser seien als als die vom Finale vom ‚The Bachelor’. Unfassbar. Schlimm. Einfach nur noch traurig“, so Pagelsdorf heute, als ich ihn per Telefon in der zweiten Woche seiner freiwilligen Quarantäne erreicht habe.

Aber Corona sollte eigentlich gar nicht unser Thema sein. Das Thema ist medial und auf den Straßen so allgegenwärtig, dass ich tatsächlich jede Abwechslung genieße. Und die Idee, mit Pagelsdorf zu sprechen, war mir gestern beim Schreiben des Jubiläumsblogs gekommen. Denn während ich geschrieben hatte, habe ich parallel immer wieder mal alte Spiele vom HSV gesehen aus der Zeit. Mit vielen schönen Erinnerungen an eine Zeit, die mit der heutigen nicht zu vergleichen ist.

Noch heute wird Pagelsdorf von Fans angesprochen

Ich hatte es ja gestern schon geschrieben, dass mir die Romantik schnell geraubt wurde, als ich zu Beginn meiner Journalistenzeit die HSV-Profis persönlich kennenlernte und anfing, über sie zu berichten. Dieser unbedingte Zusammenhalt, wie ich ihn aus dem Amateurbereich kannte, gab es da in Eden Mannschaften nicht. Und dennoch war die Mannschaft von 2000 noch deutlich geschlossener als die meisten HSV-Teams heutzutage. „Wir hatten schon richtig gute Charaktere zusammen“, erinnert sich Pagelsdorf und fängt sofort an, Namen aufzuzählen. „Hoogma, Groth, Kovac, Hollerbach, Barbarez, Mahdavikia, Töfting, Gravesen, Panadic, Yeboah, Hertzsch“, so Pageldsorf, „und da waren noch mehr richtig gute Typen. Die Mannschaft hatte eine gute Mischung aus Erfahrung auf der einen und jungem Ehrgeiz auf der anderen Seite damals. Wir haben einen großen Teil unserer Stärke auch aus der Geschlossenheit gezogen, ganz klar.“

Noch immer wird Pagelsdorf, der heute in Winterhude lebt, auf der Straße von HSV-Anhängern erkannt. Viele würden ihn fragen, weshalb er nicht mehr im Fußball aktiv ist und allen erklärt er, dass vor allem seine Familie sein Lebensmittelpunkt sei. Und Pagelsdorf stellt Gegenfragen. „Ich frage die Leute oft, ob sie sich noch an unsere Zeit damals erinnern. Was meinst Du, wie viele Namen die noch aufzählen können?“, fragt mich Pagelsdorf und ich antworte, dass es wohl gar nicht so wenige wären. Pagelsdorf: „Stimmt. Die kennen sogar noch fast alle die Namen, die ich eben auch aufgezählt habe. Also irgendwas scheinen wir damals schon richtig gemacht zu haben.“ Sehr viel sogar, behaupte ich. Denn angestachelt durch den Stadionumbau vom alten, ungemütlichen Volksparkstadion hin zur neuen Fußballarena schaffte es Pagelsdorf mit seinem Cotrainer Armin Reutershahn und Manager Holger Hieronymus, eine erfolgshungrige Mannschaft zusammenzustellen. Und das auf kuriosesten Wegen.

Stig Töfting zum Beispiel sei damals plötzlich einfach in seinem Büro aufgetaucht. „Stig hat an meine Tür geklopft und eine Flasche Wein dabei gehabt. Er kam damals aus dem Gefängnis, weil er sich in Dänemark mit Leuten geprügelt hatte, die seine Familie verbal attackiert hatten. Die beste Basis, sich einen neuen Vertrag auszuhandeln hatte er so natürlich nicht“, erinnert sich Pagelsdorf und erzählt weiter: „Stig erklärte mir, weshalb er ins Gefängnis musste und versprach mir, dass er sich benehmen werde. Er sagte, dass er eine echte Chance bräuchte. Er bot mir an, beim HSV einfach erst einmal drei Wochen zur Probe mitzutrainieren und dabei niemanden zu verletzen, woraufhin ich einwilligte - und das nicht bereute. Stig zählte zu den zuverlässigen Spielern im Training. Er gab immer Gas und integrierte sich bestens ins Team. Deshalb haben wir ihn dann auch fest verpflichtet. Seine bedingungslose Art, jedes Spiel gewinnen zu wollen, passte super. Er und seine Art waren in den Spielen gegen Juventus ganz sicher ein wesentlicher Faktor dafür, dass wir uns heute alle so gern an diese Spiele zurückerinnern.“

Früher sei eine Lange Leine möglich gewesen

Ob er glaube, dass in der heutigen Zeit derartige Konstellationen im Kader noch möglich seien, wollte ich von Pagelsdorf wissen und rechnete damit, dass er mit „Nein“ antwortet. Aber es kam anders. „Ich bin sogar überzeugt davon. Es hängt alles an der Zusammenstellung der Mannschaft. Wenn nur einer oder zwei Spieler so funktionieren, reicht es nicht. Hier muss man mutig sein, zumal sich der Werdegang hin zum Profi natürlich gegenüber damals drastisch verändert hat. Heute bekommen die Kids mit Talent ja schon im zarten Alter von Zeh oder 12 Jahren erzählt, dass sie die besten der Welt seien, um sie als Berater vertreten zu können. Da werden nicht wenige mit den falschen Werten ausgestattet und zur Unselbständigkeit erzogen.“ Bei der Mannschaft um Hoogma, Panadic, Präger und Co. habe er als Trainer dementsprechend auch lange Leine geben müssen. „Im Training nicht - aber drumherum“, so Pagelsdorf. „Die Jungs haben damals sehr viele Themen intern und von sich aus geregelt. Ein paar Spieler waren klare Wortführer und haben immer konsequent darauf geachtet, dass keiner ausschert. Als wir gesehen und mitbekommen haben, wie in der Kabine auf Disziplin geachtet wurde, wussten wir, dass wir diesem internen Prozess vertrauen können. Es ist immer ein Geben und Nehmen zwischen Trainer und Mannschaft. Und wir konnten der Mannschaft sehr viel Freiheit geben, weil wir sehr viel Disziplin und Leistung dafür zurückbekamen.“

Dass dabei auch der eine oder andere Mannschaftsabend feuchtfröhlich wurde - für Pagelsdorf war das okay. „Davon haben wir immer erst im Nachhinein erfahren, logisch. Aber die Mannschaft war erfolgsbesessen. Deshalb haben wir uns da keine Sorgen machen müssen.“ Heute seien derlei Mannschaftsabende für die neue Generation Fußballprofis kaum mehr möglich, glaubt Pagelsdorf: „Weil heute nichts mehr vor Handyvideos und -Fotos sicher sei. Die Angst vor einer Skandalmeldung nimmt heute viel Gestaltungsraum.“ Zum Ergebnis habe das eine Generation Fußballprofis, die mehr darüber redet, dass „echte Typen“ fehlten, als dass sie solche Typen überhaupt zulässt. „Das war früher noch etwas anders, wenn ich an unsere Jungs von damals denke. Und damit will ich nicht alles glorifizieren. Denn früher war vieles gut - aber längst nicht alles besser.“ Dennoch, Typen wie Hoogma, der in der Mannschaft uneingeschränkt das Sagen hatte, gäbe es kaum noch. Typen wie Hollerbach, Gravesen, Kovac und Töfting, die selbst beim Kicken mit ihren kleinen Kindern gegrätscht haben sollen, fehlen heute.

 

Ich erinnere mich heute noch an sehr viele Geschichten, die wir nicht geschrieben haben, weil sie mit der Leistung auf dem Platz nichts zu tun hatten und die Spieler darum baten, es nicht zu veröffentlichen. Es gab Spieler, die man abends beim Feiern getroffen hat und deren Nachtzüge trotzdem nicht am nächsten Tag die Titelblätter schmückten. „Der Druck von außen hat heutzutage mit der zunehmenden Vermarktung und den immer größeren Millionenbeträgen überall zugenommen. Der Egoismus hat brutal zugenommen“, sagt Pagelsdorf, der sich das letzte Mal bei der Berichterstattung über Bakery Jatta in seine Zeit beim HSV zurückversetzt fühlte. Auch er hatte damals einen Spieler, über dessen biologisches Alter viel gemunkelt wurde: Anthony Yeboah.

Bei dem Angreifer hieß es, dass er am 6.6.1966 geboren sei. Fast alle aber mutmaßten, dass der Ghanaer deutlich älter sei. Als Pagelsdorf 1997 Yeboah als seinen Wunschspieler vorschlug, stieß er vereinsintern auf viel Widerstand. „Ich wollte ihn damals unbedingt zum HSV holen. Aber ich hatte viel Widerspruch in der Vereinsführung“, erinnert sich Pagelsdorf. „Deshalb haben wir Tony zum Gespräch geholt und offen mit ihm gesprochen. Tony kam damals zu mir nach Hause und hatte eine Videokassette dabei mit seinen schönsten Toren und seinen besten Spielen. Aber darum ging es uns gar nicht.“ Stattdessen hätte er mit Yeboah offen über die Vorbehalte bezüglich seines echten Geburtsdatums gesprochen. „Er war nicht überrascht, kannte dieses Thema natürlich schon. Und er war auch nicht genervt. Ich weiß noch genau, wie er da saß und mir die Wahrheit erzählte“, erinnert sich Pagelsdorf. Und das, was mir der HSV-Trainer von 1997 bis 2002 dann erzählte, hörte ich heute zum allerersten Mal:

Pagelsdorf verrät Geheimnis um Yeboahs Alter

„Tony saß da und war sehr ernst. Er wollte sehr gern zu uns kommen und merkte, dass wir ihn auch gern haben wollten. Als ich ihn dann auf sein echtes Alter ansprach, wurde er ernst und antwortete: ‚Trainer, ich war in der Jugend ein ganz guter Kicker und die Großen wollten mich gern schon bei sich einsetzen‘ hat er mir damals erzählt. Deshalb hätte man ihn in Ghana einfach mal zwei Jahre älter gemacht, um seine Spielerlaubnis zu bekommen. In Wirklichkeit sei er also zwei Jahre jünger, während man hier in Deutschland immer vermutete, er sei deutlich älter als in seinem Perso ausgewiesen.“ Als zuletzt die Geschichte mit Jatta aufkam, fühlte sich Pagelsdorf an diese Situation erinnert. „Ich kann und werde mir bei Bakery Jatta kein Urteil erlauben. Im Gegenteil: Er hat ja gültige Papiere. Aber seit damals weiß ich eben auch, dass viele Spieler in diesen Ländern gar keine Chance hatten, sich großartig zu wehren.“

Sportlich sei es auch nicht von Bedeutung, so Pagelsdorf. Bei Yeboah sollte es für den HSV letztlich eine positive Geschichte werden. Yeboah wurde in Hamburg ähnlich wie Jatta heute zum absoluten Publikumsliebling. „Auch mannschaftsintern hatte Tony einen extrem guten Stand“, so Pagelsdorf, der für den HSV in 121 Spielen 35 Tore erzielte 13 vorbereitete. Allein die Anwesenheit Yoboahs auf dem Platz sorgte bei en Gegnern damals schon für mächtig Respekt. Dass er zumeist von montags bis einschließlich donnerstags nur individuell trainierte oder sich behandeln ließ, um pünktlich zum Abschlusstraining wieder dabei zu sein und anschließend auch in der Startelf zu spielen - seine Mannschaftskollegen akzeptierten es. „Tony war ein unfassbar guter Typ, ein totaler Teamplayer. Er war extrem beliebt.“ Und ein echter Typ. „Ich weiß noch wie heute, wie ich ihn mal auf der Waage sah und fragte, was da los sei. Er hatte plötzlich ein paar Pfund zu viel auf der Anzeige. Tony sah mich nur kurz an, lächelte und antwortete: ‚Warten Sie, Trainer. Ich muss noch die Ketten abnehmen.’ Das tat er. Er nahm seine Goldketten mit den dicken Klunkern ab und plötzlich stimmte sein Gewicht wieder.“

Ich will hier wirklich nicht mit dem Spruch kommen, dass früher alles besser war. Das war es sicher nicht. Aber es war heute trotzdem richtig schön, mit Pagelsdorf über eben diese alten Zeiten zu sprechen. Und gerade in Zeiten wie diesen, wo auf dem Platz beim HSV nicht viel bis nichts passiert, sind sie vielleicht auch für Euch mal ganz interessant. Oder?

 

In diesem Sinne, Ich wünsche Euch allen jetzt ein paar schöne, ruhige und gesunde Osterfeiertage - und lasse parallel schon ein paar alte Videos von damals über youtube abspielen…

Bleibt gesund!

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