Marcus Scholz

27. Februar 2020

Wenn es mal eng wird, wird schnell vom Charaktertest gesprochen, den die Mannschaft in Form von Sieg oder eben Niederlage erfolgreich oder nicht bestehen kann. Heute, ein paar Tage nach der bitteren Derbypleite und dem tabellarischen Abrutschen auf Rang drei, sehen nicht wenige Anhänger in dem Spiel beim FC Erzgebirge Aue am Sonnabend sowas ähnliches wie einen Charaktertest. Und das nicht ganz zu Unrecht. Die Zusammenhalt fordernden Worte von Trainer Dieter Hecking direkt nach dem Derby und von Sportvorstand Jonas Boldt haben das ganze Thema noch einmal beschwert. Und auch sportlich scheint das Spiel am Sonnabend im Erzgebirgsstadion weniger zum fußballerischen Leckerbissen denn zu einem ganz harten Stück Arbeit zu werden. Am Freitag soll es in Aue schneien und am Sonnabend noch mal regnen. Es werden sicher nicht die Bodenverhältnisse, die spielerisch orientierte Mannschaften wie der HSV bevorzugen.

Was Trainer Hecking vom Spiel in Aue erwartet? „Das, was ich immer auswärts erwarte. Eine volle Hütte. Die Mannschaft wird uns alles abverlangen. Ich habe gehört, dass es Schneefall in Aue geben soll. Die werden versuchen, uns ein Bein zu stellen. Das hat uns in den vergangenen Auswärtsspielen aber auch schon verfolgt.“ Und das wird auch in den letzten elf Saisonspielen so bleiben. Entscheidend ist nur, wie der HSV auf die immer wiederkehrend destruktive Spielweise seiner Gegner (Stuttgart, Bielefeld, Heidenheim mal ausgenommen) reagieren wird. Und ob er die richtigen Mittel auf den Platz bekommt.

Jung ist für Hecking aktuell unverzichtbar

Und so ungern das hier einige auch hören werden: Gideon Jung ist für mich im Spiel beim FC Erzgebirge Aue unverzichtbar. Als lauf- und zweikampfstarker Abräumer wird er insbesondere in Hinblick auf die schwierigen Bodenverhältnisse und das zu erwartende Kampfspiel sogar ein ganz wichtiger Faktor werden können. Auch in den Trainingseinheiten auf den top gepflegten Rasenplätzen am Volksparkstadion ist Jungs Zweikampfverhalten von keinem anderen Mittelfeldspieler so zu sehen – und auch nicht zu erwarten.

Am ehesten nächsten käme den Notwendigkeiten noch Adrian Fein. Über den rekonvaleszenten Mittelfeldspieler sagte Hecking heute allerdings, dass er nach seinem Jochbeinbruch mit der Carbon-Maske zwar gut durchs Training gekommen sei, aber insgesamt noch ein wenig verhalten wirke. Letzteres ist für das Spiel in Aue sicher ein Ausschlusskriterium. Hecking: „Er hat das ganze Training mitgemacht. Es wird aber nur dann gehen, wenn er zu 100 Prozent bist. Mit 80 und 90 Prozent wird es nicht gehen.“

 

 

Im Training heute war fein wieder dabei - und Heckings Beobachtungen bestätigten sich: Fein machte alles mit, aber immer noch etwas verhalten. Beim Warmmachspiel (Handball auf verkürztem Feld) hatte er immer einen Sicherheitsabstand zu Gegenspielern. Zweikämpfe gab es ansonsten zwar auch wenig - bei ihm aber immer noch etwas weniger. Und das blieb bis zum Ende so, wobei heute nach dem Warmmachen eh nur Torabschlussübungen ohne richtige Zweikämpfe anstanden. Auch deshalb absolvierte Fein nach der Einheit noch individuelles Training mit Tobias Schweinsteiger - alles gut beobachtet vom Trainerteam Hecking/Bremser.

Bei Fein wird es eng bis Sonnabend in Aue

Ich würde mich freuen, wenn Fein es schafft bis Sonnabend. Er verkörpert für mich das, was dem HSV ohne ihn fehlt: Verantwortung in beide Richtungen. Denn außer Fein hat der HSV nur noch offensive (Schaub, Kittel, Hunt) und rein defensive (Jung) Spieler - oder eben welche wie David Kinsombi, die im Formtief feststecken. Mit Fein würde der HSV im Mittelfeld stabiler und flexibler - wenn Fein 100-prozentig einsetzbar ist. Entscheiden dürften sich das alles spätestens morgen. Da werden sich Fein und Hecking nach der Einheit noch einmal unterhalten und dann beschließen, inwieweit Fein wieder voll hergestellt und eine Verstärkung ist.

Wie eingangs erwähnt, gibt es für mich keine Spiele, die als „Charaktertest“ durchgehen. Den absolvieren Mannschaften immer. Jeden Tag. Der tägliche Umgang ist letztlich viel entscheidender für das Teambuilding als ein einzelnes, noch so wichtiges  Spiel. Dennoch gibt es eben die Momente, in denen nichts anderes zählen darf als der Erfolg – und so ein Moment steht dem HSV in Aue bevor. Dort müssen alle bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Anders als im Derby, aus dem Hecking den Schluss zieht: „In den ersten 20 Minuten habe ich elf Leader gesehen. Wenn man die anderen 70 Minuten sagt, muss man sagen, nein, da hatten wir die Leader nicht auf dem Platz. Ein Leader bist du, wenn du auf dem Platz deine Leistung bringst. Und dann war ich auch nicht der Leader, den die Mannschaft gebraucht hätte.“

 

Heckings Problem ist aber am wenigsten er selbst. Vielmehr hat er Spieler mit nachgewiesenem Führungsanspruch, die schlichtweg nicht in Form sind (Kinsombi, Hunt, Harnik). Dann hat er Führungsspieler wie Fein und van Drongelen, die verletzungsbedingt oder sportlich wackeln. Und eben die Spieler, die Führung übernehmen sollen und wollen, aber gefühlt immer umstritten sind - wie Gideon Jung. Wohl auch deshalb versucht Hecking, Aaron Hunt stark zu reden. Seit Wochen. Auch heute stellte er seinem Kapitän einen erneuten Startelfplatz in Aussicht. Generell hatte Hecking gestern schon nichts an der Startelf vom Pauli-Spiel verändert. Ob es auch gegen Aue vorstellbar wäre, mit Hunt und Schaub im Mittelfeld zu beginnen? Ja - sagt Hecking: „Hunt und Schaub ist auch weiterhin möglich. Aaron ist nicht in dem Spielrhythmus. Er weiß auch selbst, dass das nicht sein beste Leistung im Derby war, aber das bedeutet nicht, dass er nicht wieder von Anfang an spielen wird.“

HSV fehlt gesunde Mitte - auch auf dem Platz

Ich habe im Community-Talk schon gesagt und gestern zudem geschrieben, dass dem HSV in seinem Umfeld die „vernünftige, produktive Mitte“ fehlt. Die einen sehen den HSV weiter auf dem Weg in die Erste Liga, die anderen malen grundsätzlich schwarz und vermuten Schlimmstes. Hecking dazu heute: „Ich kann vielem nichts abgewinnen, weil ich anders denke als Menschen, die das Glas immer halbleer sehen. Ich versuche auf einer Skala von Null bis 10 immer zwischen Fünf und Sechs zu pendeln. Hektik zu verbreiten, das widerstrebt mir. Ich habe immer gesagt, dass wir gut sind, aber das uns auch noch ein Stück fehlt. Ich bin sehr entspannt. Ich würde mir natürlich wünschen, dass wir so wie Bielefeld mit sechs Punkten Vorsprung auf Platz drei dastehen. Aber die Ruhe ist nicht gespielt. Wir haben ein Spiel verloren. Das Spiel hätten wir nicht verlieren dürfen.“

Hat man aber - und deshalb muss man es jetzt wieder gutmachen. In Aue. Am Sonnabend. Mit einem Sieg. Und viel Charakter.

Gewonnen und Charakter bewiesen hatte der HSV vor einiger Zeit durch seinen Umgang mit der Personalie Bakery Jatta. Hier bedarf es gerade bei den Wortführern Dieter Hecking und Jonas Boldt keines weiteren Charakter-Beweises. Und dennoch lieferte Trainer Hecking heute noch einen, als er noch einmal klarstellte, wir er reagieren würde, sollte einer seiner Spieler auf dem Platz diskriminiert werden: „Wenn das einem von unseren Spielern passieren würde, wäre ich als Cheftrainer dafür, ein deutliches Zeichen zu setzen. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ich die Mannschaft vom Platz holen würde, wenn so etwas passieren würde. Ich lehne Rassismus in jeglicher Form ab.“ Ich auch. Wir alle sollten das.

In diesem Sinne, bis morgen! Da ist kein öffentliches Training, es wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit geübt. Wir melden uns aber trotzdem mit allem Wissenswerten zum Auswärtsspiel hier im Blog sowie morgen früh um 7.30 Uhr pünktlich mit dem MorningCall. Und wo wir schon bei Ankündigungen sind, hier noch eine: Am Sonnabend freuen wir uns auf zwei tolle Gäste aus dem HSV-e-Sports-Team auf der Auswärtscouch. Beginn ist wie bei Sonnabendspielen immer um 12.30 Uhr mit den letzten News vor dem Anpfiff. Bis dahin Euch allen einen schönen Abend!

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