Tobias Escher

26. Juli 2019

Platz vier, 56 Punkte und nur 45 erzielte Treffer: So lautete die Bilanz des Schreckens der ersten Zweitliga-Saison der HSV-Geschichte. Nach dem verpatzten Wiederaufstieg soll nun im zweiten Jahr die Rückkehr in die Erste Bundesliga gelingen. Trainer Dieter Hecking soll mit seiner Erfahrung die Truppe anführen. Kann der Routinier das wechselhafte Team stabilisieren? Und lernt die Mannschaft unter dem neuen Trainer endlich das Toreschießen?

Der verpasste Aufstieg im Sommer traf den stolzen Hamburger SV tief. Der neue Sportvorstand Jonas Boldt holte nicht nur zahlreiche frische Spieler, er verpflichtete mit Hecking auch einen Trainer, der sich klar von seinen Vorgängern abhebt. Während Christian Titz und Hannes Wolf eher als verkopfte Taktiker gelten, schätzen die Fans Hecking als Routinier und Mann der Praxis. Bei seinen zahlreichen Stationen mag er nicht als der modernste Trainer aufgefallen sein. Fast immer jedoch lieferte er Ergebnisse. Genau diese braucht der HSV im zweiten Zweitliga-Jahr. Der Aufstieg scheint angesichts der finanziellen Lage alternativlos.

Ballbesitz plus?

Geht mit dem Wechsel auf der Trainerposition nun also auch ein Wechsel der Fußballphilosophie einher? Im vergangenen Jahr stach der HSV aus der Zweiten Liga als Ballbesitzmannschaft hervor. Besonders unter Titz, aber auch unter Wolf dominierte der HSV stets das Geschehen. Das Team sammelte mehr Ballbesitz als jeder andere Zweitligist.

Hecking mag nicht den Ruf eines modernen Ballbesitz-Trainers genießen. Die Wahrheit liegt jedoch auf dem Platz: Bei seiner letzten Station in Gladbach brachte er seiner Mannschaft einen auf flache Kombinationen fußenden Spielstil bei. In 24 von 34 Liga-Spielen hatte Borussia Mönchengladbach mehr Ballbesitz als der Gegner, das war der vierthöchste Wert der vergangenen Bundesliga-Saison.

Sein in Gladbach favorisiertes 4-3-3-System implementiert Hecking nun auch in Hamburg. Die Ballzirkulation beginnt hier bei den Innenverteidigern. Im Mittelfeld davor agiert meist ein Sechser als Ankerpunkt, der sich aus der Abwehr bedienen lässt; zuletzt war dies Adrian Fein, auf Sicht kann aber auch Zugang David Kinsombi diese Rolle ausfüllen. Die beiden Achter wiederum sollen sich umtriebig zeigen, auch mal auf die Flügel oder in die Spitze wechseln. Sie genießen recht viele Freiheiten. Aus diesem Grund änderte sich die Herangehensweise in den Testspielen, je nachdem, wer im Mittelfeld agierte. Jeremy Dudziak zum Beispiel ließ sich häufig fallen oder wich auf die rechte Seite aus, während Aaron Hunt für ihn charakteristisch Bälle aus der Tiefe abholte.

 

Mehr Torgefahr?

Das Zusammenspiel zwischen Abwehr und Mittelfeld im Spielaufbau funktioniert bereits recht gut. Die Abwehr lässt den Ball laufen, nach vorne soll das Spiel über das Mittelfeld oder die aufrückenden Außenverteidiger getragen werden.

Die Ballzirkulation in der Tiefe war aber bereits in der vergangenen Saison nicht die Schwachstelle des HSV (sieht man von den zahlreichen Individualfehlern im Spielaufbau ab, besonders in der Ära Titz). Die große Schwachstelle war die Chancenkreation. Sobald sich das eigene Spiel dem letzten Drittel näherte, fehlten dem Hamburger SV Ideen und Impulse, um mit Tempo in den Strafraum zu gelangen.

In den Testspielen sah man so manchen Ansatz, wie dieses Problem gelöst werden soll. Stürmer Lukas Hinterseer schaltete sich vermehrt in das eigene Aufbauspiel ein. Er versuchte, den Ball abzulegen und im Anschluss direkt hinter die gegnerische Abwehr zu starten. Heckings Versuch, Manuel Wintzheimer zum Außenstürmer umzufunktionieren, deutet an, dass die Außenstürmer mehr Wuchtigkeit und Zug zum Tor bringen sollen als vergangene Saison. Es fehlt dem HSV aber noch immer Tiefe im Spiel.

So sah man auch in den Testspielen häufig das Muster, das Fans noch aus den Tagen von Wolf kennen: Der HSV lockte den Gegner mit Kombinationen ins Zentrum und öffnete das Spiel mit einem Pass auf den breit lauernden Außenstürmer. Dieser sollte Tempo aufnehmen und ins Eins-gegen-Eins-Duell gelangen. Bislang konnte sich jedoch kein Spieler ausdrücklich empfehlen für die Rolle des Tempodribblers; zu groß ist die Fehlerquote, zu häufig sind die Ballverluste. Sonny Kittels Wechsel aus dem Mittelfeld-Zentrum auf die Linksaußen-Position könnte einen Kurswechsel andeuten: weniger Tempo, mehr Kombinationsfreude auf dem Flügel. So oder so: Der HSV tat sich in allen Testspielen schwer, Defensivreihen zu knacken.

Weniger Experimente!

Trotz der offensiven Problemchen: Bislang blieb Hecking seiner 4-3-3-Formation treu. Die Gründe dafür liegen vor allem in der Defensive. Gegen den Ball zeigte sich der HSV in den Testspielen recht gefestigt. Gerade hier erkennt man die Handschrift von Hecking: Im Mittelfeld agiert sein Team recht mannorientiert, sie stellen die Anspieloptionen des Gegners zu. Die Abstände zwischen Mittelfeld und Abwehr bleiben dennoch gering, die Kompaktheit ist hoch. Im Trainingslager testete der HSV ein hohes Pressing, bei der Saisoneröffnung gegen Anderlecht erwartete man den Gegner kurz hinter der Mittellinie. Beide Varianten funktionierten gut.

Positiv war vor allem die Flexibilität im Spiel gegen den Ball. Durch die flexiblen Mannorientierungen wechselte der HSV schleichend die Formation – mal verteidigt man im 4-5-1-, mal im 4-2-3-1, mal im 4-1-4-1. Das Mittelfeld war so immer an den Gegner angepasst, ohne explizit die Formation umstellen zu müssen – ein kleiner Wink an Wolf, der die Mannschaft im letzten Saisondritteln mit seinen häufigen Formationswechseln überforderte. Unter Hecking soll die feste Formation das Team stabilisieren.

So könnte es aussehen: Taktisches Spielsystem des HSV

 

Kurzfristig dürfte dies der (ohnehin in der Vorsaison mit 42 Gegentoren nicht unterirdischen) HSV-Defensive weitere Stabilität verschaffen. Die langfristige Frage lautet: Kann Hecking reagieren, sollte das 4-3-3 nicht mehr funktionieren? In Gladbach stellte er in der Rückrunde auf eine Formation mit einer Dreierkette um. Den Punkteschnitt der Hinrunde konnte er mit dieser Variante nicht halten. Spannend wird die Frage sein, ob die Verpflichtung von Tobias Schweinsteiger in diesem Bereich neue Impulse freisetzt. Schweinsteiger ist in Fachkreisen als Taktikfuchs bekannt.

 

Wenig Risiko kann auch ein Risiko sein

Nach dem enttäuschenden vierten Rang der Vorsaison setzte sich beim HSV die Ansicht durch, man sei in der vergangenen Saison zu viel Risiko eingegangen. Unerfahrene Mannschaft, unerfahrenere Trainer, dazu ein riskanter Spielstil: Es war zu viel. Diese Saison soll der HSV stabiler aufgestellt sein. Diese Stabilität spiegelt sich auch im taktischen Bereich wider. Ein System, das die Stärken der vergangenen Saison weiterführen und die Mannschaft zugleich stabilisieren soll: Das ist ein Weg, der funktionieren kann.

 

Dass die Zweite Liga auch aus taktischer Sicht kein Selbstgänger ist, bewies die vergangene Spielzeit. Gegnerische Trainer sezierten damals das Spielsystem des Hamburger SV. Ihre Spieler folgten den ausgetüftelten Plänen und legten gegen den großen HSV noch die 5% an Lauf- und Kampfstärke oben drauf, die den Unterschied ausmachen können. Es wird sich zeigen, wie Hecking mit dieser Herausforderung umgehen kann. Schon das Spiel gegen Darmstadt dürfte ein erster Fingerzeig sein. Dimitrios Grammozis bewies schließlich bereits im vergangenen Jahr beim 2:3-Sieg seiner Lilien, dass er den HSV ärgern kann.

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