Marcus Scholz

22. Februar 2020

Als Schiedsrichter Manuel Gräfe das 103. Stadtderby nach fünf Minuten Nachspielzeit abpfiff, waren von den 57.000 Zuschauern längst nicht mehr alle im Stadion. Und die, die noch da waren , mussten sich Jubelgesänge des FC St. Pauli-Anhanges gefallen lassen, der den letztlich sogar verdienten 2:0-Auswärtssieg feierte. „Die Nummer eins der Stadt sind wir“, sagen die Fans in der Süd-Westkurve, während Rick van Drongelen und Co. auf der anderen Seite von den eigenen Fans mit Pfiffen bedacht in die Kabine geschickt wurden. Es war also alles genau so, wie es hier nicht hatte kommen sollen. Weder nach noch vor dem Spiel.

 

Denn  schon vor dem Anpfiff hatte es erste gefährlich Angriffe gegeben – allerdings von der Sorte, die komplett sinnfrei sind. HSV-Anhänger beschossen die Kurve Südwest, in der die Pauli-Fans standen, mit Feuerwerk. Und diese versuchten daraufhin ihrerseits, über die Westtribüne bis zu den HSV-Chaoten vorzustoßen, wurden aber von dem anwesenden Ordnungsdienst abgehalten. Unschön! Nein: Nur dumm, nichts anderes.

Pohjanpalo und Hunt dürfen erstmals beginnen

Gar nicht dumm schienen für viele die von Trainer Dieter Hecking vorgenommenen Umstellungen in der Startelf. Neben Aaron Hunt, der das erste Mal im neuen Jahr in der Startelf stand und den verletzten Jeremy Dudziak ersetzte, stand auch Winterzugang Joel Pohjanpalo nach drei Joker-Einsätzen das erste Mal in der Startelf. Für ihn blieb Lukas Hinterseer auf der Bank. Beides Wechsel, die zu Beginn anschlugen. Denn der HSV übernahm von der ersten Sekunde an  das Kommando.

Man werde die Anfangsphase nicht den Gästen überlassen, hatte HSV-Trainer Dieter Hecking angekündigt. Und so kam es auch. Vor allem kam der HSV auch gleich zu guten Torchancen. Nach einem ersten Warnschuss von Hunt in der 6. Minute war es Sonny Kittel, der in der 7. Minute mit seinem Linksschuss aus 16 Metern die Latte traf. Pech für den HSV, zumal Louis Schaub den Nachschuss nicht voll traf und St. Paulis Buballa zur Ecke klären konnte. Aber der HSV blieb am Drücker. Keine drei Minuten nach dem ersten Aluminiumtreffer folgte schon der zweite. Jatta hatte sich gegen Buballa den Ball auf der Torauslinie erkämpft, legte quer – allein Pohjanpalo kam nicht mehr richtig hinter den Ball und traf nur den linken Außenpfosten.

 

„In dieser bärenstarken Phase hätte der HSV in Führung gehen müssen“, befand St.Pauli-Trainer Jos Luhukay nach dem Spiel. Und während sich meine Pauli-Kollegen auf der Pressetribüne mit ihren Tipps (zwischen 0:2 und 0:5) tendenziell bestätigt fühlten und sie eher noch einmal nach oben nachkorrigierten, hatte der HSV Glück, dass Schiedsrichter Manuel Gräfe ein Handspiel von Schaub im eigenen Sechzehner nicht als solches wertete – ansonsten hätte es Elfer gegeben. Gästestürmer Diamantakos forderte selbigen und bekam noch Gelb. Hart für die Gäste.

Der HSV drückt, Veerman trifft für St. Pauli

Allerdings verzögerte sich die überraschende Führung dadurch nur um sechs Minuten. Da hatte der bis hierhin agile Schaub eine Idee, chippte den Ball Höhe Mittellinie viel zu lasch quer Richtung Tim Leibold und Paulis Miyaichi konnte dazwischen gehen. Dessen Ball landete bei Veerman – und ab ging die Post. Weshalb van Drongelen diesen Angriff nicht mit einem taktischen Foul unterbrach – er wird sich selbst am meisten ärgern. Denn im Laufduell hatten weder er noch Hunt eine Chance gegen den 2,02-Meter-Hünen, der allen davonlief und über Heuer Fernandes hinweg zum 0:1 traf.  Stark von Veerman – schwach von der HSV-Abwehr und Schaub.

Und so überraschend der Rückstand da war, so blieb der HSV geschockt. Trotz knapp 70 Prozent Ballbesitz, einer positiven Zweikampfquote und einer hohen Passsicherheit kam der HSV hier nicht weiter. Im Gegenteil: Bevor man das 0:1 richtig verdaut hatte, bekam man sogar das 0:2. Ausgerechnet durch den Mann, den selbst die Pauli-Kollegen als Schwachstelle im eigenen Team angeprangert hatten: Matt Penny. Der hatte sich nach einem Abpraller aus 22 Metern einfach mal ein Herz gefasst und draufgehalten. Das 2:0 für die Gäste. Und ein weiterer Tiefschlag für den HSV, der zwar durch Schaub (nach Flanke von Hunt) in der 36. Minute hätte treffen können – das aber nicht tat. Und da Heuer Fernandes gegen Diamantakos (44.) stark reagierte blieb es zur Halbzeit beim 2:0 für den FC St. Pauli.

Trainer Hecking findet keine Lösung in der Halbzeit

Problem diesmal: Pohjanpalo stand schon auf dem Platz. Mit ihm zu reagieren ging also nicht. Dabei war der Finne bis auf den Pfostenschuss zwar bemüht – aber nahm kaum am Spiel teil. Ein Wechsel in der Startelf, der letztlich zum Boomerang wurde. Ebenso wie beim schwachen Hunt, der allerdings noch mehr am Spiel teilnahm als Tim Leibold. Was mit dem bis heute eigentlich konstant starken Linksverteidiger war – ich weiß es nicht.

Gewechselt wurde dennoch erst in der 62. Minute. Kittel und Hut gingen, Harnik und Kinsombi kamen. Und Pauli traf. Benatelli köpfte einen Abpraller gegen den auch in dieser Szene indisponierten Leibold ein – aber der Videoschiri erkannte auf Abseits, da Miyaichi vor Heuer Fernandes stand. Glück für den HSV, bei dem jetzt auch Hinterseer kam – für Jatta! Für den einzigen Spieler vorn mit Tempo. Das verstehe, wer will...

Dementsprechend wenig passierte auch. Der HSV in der zweiten Hälfte wieder mit knapp 70 Prozent Ballbesitz, aber immer wieder ideenlos und mit langen Bällen, was es dem FC St. Pauli leicht machte, hier zu verteidigen. Und selbst wenn der HSV mal traf, war der Videoschiri da. Beim vermeintlichen 1:2 von Hinterseer erkannte dieser zurecht auf Handspiel von Pohjanpalo (82.). Nein, hier und heute lief für den HSV ab dem 0:1 in der  20. Minute so gut wie nichts mehr zusammen. Schaub bemühte sich, war aber oft zu zögerlich im Abschluss und zu langsam im Passspiel. Pohjanpalo fand so gut wie gar nicht statt und nach Hunt war auch dessen Ersatz Kinsombi schwach. Die beiden Außenbahnen blieben bis auf ein paar Jatta-Vorstöße wirkungslos und Leibold absolvierte seine mit weitem Abstand schwächste Partie im HSV-Trikot. Zudem hatte eute auch Hecking mit seinen Entscheidungen maßgeblichen Anteil an der Niederlage.

Hecking nimmt die Niederlage auf seine Kappe

Kurzum: Die Pfiffe der HSV-Anhänger unter den 57.000 Zuschauern zur Halbzeit und nach Schlusspfiff waren hochverdient.  Ein komplett gebrauchter Nachmittag, der durch Heidenheims und Stuttgarts Siege noch verschlimmert wurde. Denn so ist man nur noch drei Punkte vor Heidenheim (gewannen 1:0 in Kiel) und schon drei Zähler hinter Stuttgart (2:0 gegen Regensburg). Bielefeld kann morgen mit einem Heimsieg gegen Hannover zudem auf sechs Punkte davonziehen. Und das ist noch deutlich schlimmer als die Tatsache, dass man in einer Saison gleich zwei Stadtderbys gegen den FC St. Pauli verloren hat.

„Der HSV hat das Spiel in der Anfangsphase verloren“, machte Gästetrainer Jos Luhukay seinem befreundeten HSV-Trainer Hecking Mut: „Da hätte der HSV in den ersten 15 oder 20 Minuten in Führung gehen müssen – und dann waren wir brutal effektiv.“ Allerdings fügte Luhukay auch hinzu, dass der HSV in der zweiten Halbzeit dann an Torgefahr eingebüßt hatte, was auch Hecking so sah: „Der Frust ist groß, wenn man zweimal das Derby verliert.“ Ein Umstand, der übrigens historisch ist – sowas gab es noch nie in der bald 133 Jahre alten HSV-Geschichte. Hecking weiter: „Zu Jos’ Analyse gibt es nichts hinzuzufügen. Wir müssen in Führung gehen – dann kommt die erste Aktion mit einer Fehlerkette wie so oft. Dann fällt das 0:2 und das war dann der eine Knock zu viel. In der Halbzeit habe ich dann nicht die Lösung gefunden, nicht die Worte, die die Mannschaft gebraucht hätte. Da muss ich mich hinterfragen, ob ich alles richtig gemacht habe“, so der HSV-Coach selbstkritisch, ehe er dann selbst die Antwort gab: „ Diese Niederlage nehme ich auf meine Kappe. Das war von uns allen nach der 20. Minute zu wenig. Wir werden die Häme ertragen müssen, werden uns kräftig schütteln – und dann nehmen wir unser großes Ziel wieder in Angriff: Den Aufstieg.“

In diesem Sinne, bis morgen. Da melden wir uns mit der Taktikanalyse von Tobias Escher bei Euch und werden noch einmal verdeutlicht bekommen, warum der Sieg des FC St. Pauli letztlich vom HSV leicht gemacht wurde.  Euch allen trotzdem noch einen schönen Restsonnabend.

Scholle

Das Spiel im Stenogramm:

HSV: Heuer Fernandes - Beyer, Letschert, van Drongelen, Leibold - Jung - Schaub, Hunt (62. Kinsombi) - Jatta (71. Hinterseer), Pohjanpalo, Kittel (62. Harnik)

FC St. Pauli: Himmelmann - Penney, Östigard, Buballa, Ohlsson - Benatelli, Becker (35. Knoll) - Miyaichi, Sobota (90. Flum), Diamantakos (87. Tashchy) - Veerman

Tore: 0:1 Veerman (20.), 0:2 Penney (29.)

Zuschauer: 57.000 (ausverkauft)

Schiedsrichter: Manuel Gräfe (Berlin)

Gelbe Karten: - / Diamantakos (12.), Ohlsson (62.), Veerman (64.), Buballa (82.)

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