13. Juli 2020
Im Trainingslager in Portugal war er schon dabei. Und zwar sehr gut sogar. Neben Travian Sousa und Jonah Fabisch hatte sich auch Anssi Suhonen mit starken Leistungen in der U21 (nur ein Einsatz) und vor allem in der U19-Bundesliga-Mannschaft (15 Einsätze bis zur Corona-Pause) bei Trainer Dieter Hecking in den Fokus gespielt. „Sie sollen mal alles mitmachen, die Abläufe und die Jungs kennenlernen“, hatte der damalige HSV-Coach mir zu Beginn des Trainingslagers über die Talente gesagt und betont, dass es nicht darum ginge, neue Spieler einzubauen. Hecking versuchte ganz bewusst, die Erwartungshaltung und den Reflex zu vermeiden, dass wir hier das nächste Supertalent ausmachen. Und das schaffte er. Vielmehr waren die der Youngster zum Kaderauffüllen da, um im Training entsprechende Spielformen funktionieren lassen. Allerdings wusste Hecking da noch nicht, wie stark sich der junge Finne präsentieren würde in der einen Woche in Portugal.
Der ausgeschiedene HSV-Trainer hatte die Beförderung Suhonens in den Profikader für die Trainingswoche in Lagos schon als Belohnung an sich erachtet. Dabei sollten wir es in unserer Berichterstattung doch bitte auch belassen, wenn wir dem Jungen einen Gefallen tun wollten. „Aber Anssi ist eh keiner, der sich mit einer Belohnung oder netten Worten zufriedengibt“, sagt Jürgen Springer, der Suhonen nicht nur seit dessen 15. Lebensjahr kennt, sondern ihm auch als Berater zur Seite steht. Dass er als Berater seinen Mandanten lobt, das liegt in der Natur der Sache. Logisch. Aber in diesem Fall stellt sich das Verhältnis des Beraters zu seinem Spieler tatsächlich ein wenig anders dar. Deutlich intensiver. Eher wie Vater und Sohn, wie Suhonen selbst sagt.
Wobei Suhonen nicht sprechen wollte. Ich hatte zwar versucht, den jungen Mittelfeldspieler zu ein paar Sätzen über sich zu bewegen. Aber weder im Traningslager noch heute wollte er das. Er habe noch nichts zu sagen, bevor er nicht auch etwas geleistet habe, ließ er mir ausrichten. Zudem wolle er sich nicht wichtiger machen, als er ist. Und da er noch keinen Profieinsatz hat, sei das nun mal: Null.
Eine Einstellung, die Suhonen als Typen sehr gut beschreibt. Mit seinen offiziell 1,75 Meter Körpergröße (auf mich wirkt er kürzer) hatte er schon in der Jugend in Finnland immer zu kämpfen. „Ich habe ihn 2015 als 14-Jährigen bei einem Länderkampf gesehen, als er zwischen seinen hoch gewachsenen Mannschaftskollegen schon optisch auffiel“, erinnert sich Springer an seine erste Begegnung mit dem Mittelfeldspieler, der ihn im Anschluss begeisterte. „Er war klein, wirkte sehr schüchtern – aber auf dem Platz ging er immer vorneweg. Er spielte sehr auffällig auf der Acht oder der Zehn in seiner Mannschaft. Und er war nicht nur optisch der mit Abstand auffälligste Spieler seines Landes.“
Suhonen war beidfüßig stark, technisch gut ausgebildet und taktisch intuitiv gut. „Er hatte ein super Umschaltverhalten, hat auf dem Platz ein unfassbares Pensum abgerissen. Immer. Und war brutal in den Zweikämpfen“, erinnert Springer, „er hat jedenfalls nie auch nur den Hauch von Rücksicht auf seine eigene Gesundheit genommen. Er wusste immer, dass er Grund genug für Springer, der als Experte für Talente im skandinavischen Bereich für die in Rellingen ansässige Agentur FTC (betreuen auch Vagnoman und David) arbeitet, Suhonen unter Vertrag zu nehmen. Und von dort begann die Arbeit des Beraters erst so richtig.
Denn es wurde schnell deutlich, dass Suhonen abseits des Platzes deutlich mehr Hindernisse zu bewältigen hatte, als andere. Die Schule lag dem fußballbegeisterten Jungen so gar nicht. Mit viel Anstrengung gelang der Hauptschulabschluss. Der Bolzplatz hatte immer Vorrang. Und da er von seinen damals noch alkoholkranken Eltern auch privat nicht den Rückhalt und noch weniger Anleitung für das Leben und die eigene Entwicklung mitbekam, die Jugendliche brauchen, um sich im Leben zu orientieren, drohte Suhonen Schlimmes. Er zog mit 12 Jahren zusammen mit seiner Schwester zu seinen Großeltern und hatte eine vergleichbar schwierige Kindheit. „Nur gejammert hat er nie. Wegen nichts“, sagt Springer voller Anerkennung, „Anssi hat aus allen Umständen vor allem eines gezogen: Stärke. Wehleidig sein ist ihm fremd. Er gibt nie auf. Er ist nicht kaputt zu kriegen. Weder auf dem Platz – noch daneben.“ Ein Eindruck, den ich so bislang bestätigen kann.
Wer wissen will, was Springer meint, muss Suhonen nur einmal auf dem Platz beobachten. Zurückziehen gilt bei dem Blondschopf nicht – der 19-Jährige ist furchtlos. Was ihm an Körpergröße fehlt, macht er mit Einsatz und Bedingungslosigkeit in Zweikämpfen wett. Und ganz nebenbei ist Suhonen auch noch ein richtig guter Fußballer. Im Testspiel in Portugal gegen den FC Seoul (1:1) sowie nach dem Trainingslager beim Test gegen den VfB Lübeck (2:5) durfte er mitwirken. Nicht auf seiner angestammten, zentralen Position sondern außen – aber er wusste zu gefallen. Mit einem unfassbaren Laufpensum und seiner beidfüßigen Schussstärke. Vor allem aber wird eines deutlich: Suhonen ist nur glücklich, wenn er kicken darf.
Der Finne ist der Typ Straßenfußballer, den sich viele sehnsüchtig in Hamburg im Kader wünschen. Er will einfach immer kicken. Heiligabend hat er nach 21 Uhr noch zwei Stunden in der bitterkalten Heimat bei Temperaturen trainiert, „bei denen sich andere mit einem Gelben Schein abmelden“, so Springer. Suhonen läuft jeden Tag mindestens 16 Kilometer – manchmal sogar, obwohl ihm von Vereinsseite eine Pause verordnet wurde. Er ist ein „Naturbursche“, sagt Springer. „Er daddelt nicht Computer, braucht kein Handy in der Hand. Er weiß ganz genau, was er will und dass er da nur hinkommt, wenn er fleißiger ist als andere.“
Beispiele dafür hat Suhonen in Hamburg kennengelernt. Fiete Arp zum Beispiel. Der galt im Internat zu Ochsenzoller Zeiten als unschlagbar im Eins-gegen-Eins im Keller des NLZ. Allein gegen Suhonen konnte der heutige Bayern-Profi nicht gewinnen. Und selbst wenn der finnische U19-Nationalspieler eher nicht als Intellektueller durchgeht, so hat er eine soziale Intelligenz, wie Springer zu berichten weiß. Angebote der Nachwuchsabteilzungen von Ajax und Arsenal ließ Suhonen ebenso verstreichen wie ein Angebot aus Köln und von RB Leipzig. Weil Suhonen eben wusste, was er zumindest damals noch nicht gekonnt hätte: allein klarzukommen. „Er hatte noch nicht die Reife und entschied sich auch deshalb für den HSV, weil er von Tobias Fagerström nur Gutes berichtet bekam und mit ihm einen Landsmann beim HSV hatte, der ihm dabei half, sich einzuleben“, sagt Springer, der als Lübecker zudem selbst seither immer in der Nähe ist.
Nun werden sich viele fragen, weshalb es bislang weder Fagerström noch Suhonen dauerhaft in den Profikader beim HSV geschafft haben. Und die Antwort ist recht einfach: Weil sie noch nicht so weit waren/sind. Aber um bei Suhonen zu bleiben, der Finne hat einigen physisch und fußballerisch besseren Talenten einen ganz entscheidenden Punkt voraus: Er gibt nie auf. Er erinnert mich von der Mentalität her ein wenig an Heung Min Son. Der Südkoreaner galt zunächst auch als zu leicht und wurde beim HSV nach einer Probezeit sogar aussortiert. Nur, weil er selbst insistierte, blieb er und überzeugt mit unfassbarem Fleiß. Son stand wirklich immer auf dem Trainingsplatz – ebenso wie Suhonen. Und wenn die Kollegen in die Kabine gingen zum Duschen, machte Son weiter. Er absolvierte freiwillig Kraft- und Techniktraining – wie Suhonen. Son legte sich zig Bälle auf die Außenlinie und dribbelte in hohem Tempo die Linie runter, zig nach innen und zirkelte den Ball ins lange Eck. Von beiden Seiten, mit beiden Füßen.
Son versuchte alles zu perfektionieren durch Wiederholungen. Er wollte immer dazulernen – gleiches gilt für Suhonen, der diesen Weg für sich gewählt hat. Irgendwann griff dieser Wille, dieser Fleiß bei Son dann auch und er schaffte über den HSV und später Bayer Leverkusen den Sprung in die fußballerische Weltspitze bei Tottenham Hotspur. Und BITTE nicht falsch verstehen: Son hatte das Ausnahmetalent und den unbedingten Willen – eine Traumkombination, die es nur selten gibt. Deshalb ging er auch einen Weg, von dem Suhonen heute nur träumen kann. Aber es gibt zarte Parallelen. Vor allem weiß Suhonen seine Situation gut einzuschätzen. Er weiß einfach, dass es nur ein ganz kleiner Teil der Talente auch wirklich nach ganz oben schafft. Und zwar nur der Teil, der nie aufgibt. Der Teil, der das macht, worüber andere nur reden. Und zumindest in diesem einen Punkt, da sind sich eigentlich alle einig, da ist der kleine Finne vielen großen Großen schon heute weit voraus.
Auch deshalb bin ich geneigt, mich dem Schlusssatz von Berater Jürgen Springer anzuschließen. Wobei, nein: deshalb habe ich diese Geschichte heute hier überhaupt erst aufgeschrieben. Suhonen ist ein Beispiel für die Talente, die beim HSV noch schlummern und die sich entfalten können, wenn sie ausrechend Zeit und immer mal die Gelegenheiten bekommen. Daher schließe ich mich Springer gern an, der zum Schluss über seinen Schützling sagt: „Bei dem Willen muss schon viel dazwischenkommen, dass er es nicht schafft, die nächsten Schritte zu gehen.“
In diesem Sinne, bis morgen!
Scholle
P.S.: HSV-Wunschkandiidat Hendrk Weydandt kommt nicht nach Hamburg. Der Angreifer verlängert seinen Vertrag bei Hannover 96. Diese und alle anderen Kurzmeldungen findet ihr wie immer in unserem Newsticker.