Tobias Escher

9. Juni 2020

Die Unkenrufe schallten schon vor dem Anpfiff durch die Sozialen Medien. Der Hamburger SV hat die Chance, nach den Patzern von Stuttgart und Heidenheim wichtige Punkte im Aufstiegskampf zu holen? Das vergeigt der HSV doch sowieso! Leider erfüllte die Hamburger Mannschaft beim 3:3 gegen Holstein Kiel genau jenes Klischee, das besagt: Wenn es drauf ankommt, gehen dem Team die Nerven flöten. Die Taktikanalyse.

Die Aufgabe war klar formuliert: Im vierten Anlauf sollte endlich der erste Zweitliga-Sieg gegen Holstein Kiel gelingen. Der Hamburger Angstgegner (zwei Niederlagen, ein Unentschieden) gehört zu den unorthodoxen Teams der Zweiten Liga. Obwohl sie finanziell eher ein Leichtgewicht sind, sieht ihre Spielphilosophie keinen klassischen Außenseiter-Fußball vor. Die Kieler haben nach den Aufstiegskandidaten Bielefeld, Hamburg und Stuttgart den höchsten Ballbesitzwert der Liga, der Anteil hoher Bälle liegt bei ihnen bei gerade einmal 16%. Holstein will den Ball lange in den eigenen Reihen halten und das Spiel flach eröffnen. Selbst gegen den Tabellen-Dritten aus Hamburg hielten sie an ihrer Philosophie fest.

HSV verteidigt kompakt

Kiels Trainer Ole Werner schickte seine Mannschaft in einem 4-3-3-System auf das Feld. Auffällig war, wie stark sich die Kieler Mannschaft in zwei Blöcke einteilte. Die vier Abwehrspieler sowie Sechser Jonas Meffert hielten sich bei eigenem Ballbesitz zurück. Sie sollten den Ball in der ersten Linie laufen lassen. Die fünf übrigen Akteure hingegen postierten sich weit vorne auf dem Feld. Kiels Kalkül: Sie wollten den Ball lange in den eigenen Reihen halten. Sobald sie jedoch vertikal nach vorne spielen, wollten sie den Angriff mit fünf Angreifern schnell und wuchtig zu Ende spielen.

Nicht oft trifft der HSV im eigenen Volksparkstadion auf derart proaktive Gäste. Der HSV fokussierte sich zunächst darauf, die richtigen Abstände zwischen den Mannschaftsteilen herzustellen. Über weite Strecken verteidigten die Hamburger dabei in einem 4-4-1-1-System, wobei David Kinsombi aus dem Mittelfeld vorrückte und Joel Pohjanpalo unterstützte. Im Vordergrund stand dabei nicht das Anlaufen der gegnerischen Verteidiger, sondern das Schließen der Passwege. Die Hamburger Angreifer sollten Zuspiele ins Kieler Mittelfeld verhindern. Dahinter deckten Aaron Hunt und Adrian Fein die gegnerischen Achter eng.

Taktische Aufstellung HSV - Holstein Kiel
Taktische Aufstellung HSV - Holstein Kiel

 

Hamburgs defensive Abstimmung funktionierte, solange Kiel den Ball in der eigenen Abwehr hielt. Immer wieder feuerte Hecking seine Spieler an und lobte die richtigen Abstände. Tatsächlich gelang es, dass die Kieler ihren Ballbesitz über weite Strecken in der Abwehrkette ausspielen mussten. Stefan Thesker, Hauke Wahl und Johannes van den Bergh spielten allein 200 der knapp 500 Kieler Pässe.

Blöd nur, wenn man den Gegner mit einem unprovozierten Fehlpass zu einem Konter einlädt. Genau das tat Bakary Jatta. Hier kam die zweite Stärke der Kieler zum Tragen: Sofort schalteten sie mit ihren fünf vorwärtsgerichteten Angreifern um. Alexander Mühling gelang die frühe Führung (9.).

HSV nutzt Kieler Defensivschwächen

Nun mögen die Kieler fußballerisch wie ein Spitzenteam auftreten. Dass sie keins sind, liegt maßgeblich an ihrer Defensive. Mit 49 Gegentreffern haben sie die drittmeisten Gegentore der Zweiten Liga kassiert.

Der HSV wusste die defensiven Schwächen des Gegners auszunutzen. Im Mittelfeld agieren die Kieler enorm mannorientiert. Salih Özcan nahm Sechser Adrian Fein in Manndeckung, auch Meffert und Mühling verfolgten ihre Gegenspieler weit. Rückt das gegnerische Mittelfeld weit vor, folgen die Kieler Mittelfeldspieler ihren Gegenspielern. Genau dies machte sich der HSV zunutze: Kinsombi schaltete immer wieder weit vorne mit ein. Das Kieler Mittelfeld wurde somit weit nach hinten gedrückt.

Kinsombi bewegte sich dabei häufig auf die linke Seite. Dieser Flügel war auch in dieser Partie wieder die Hamburger „Schokoladenseite“. Sobald Kinsombi seinen Manndecker nach links gezogen hatte, zog Kittel in die Mitte. Er nutzte die entstehenden Freiräume, um zum Dribbling anzusetzen. Auch Linksverteidiger Tim Leibold agierte gewohnt offensiv. Der HSV drehte das Spiel dank zweiter Angriffe über die linke Seite. Mit einer 2:1-Führung ging der HSV in die Halbzeitpause.

Flügelwechsel nach der Pause

In der zweiten Halbzeit versuchten beide Trainer, über die Flügel neuen Schwung ins Spiel zu bringen. Das gelang zunächst den Kielern: Nachdem ihre Außenstürmer Emmanuel Iyoha und Fabian Reese die Seiten getauscht haben, versprühte Kiel wesentlich mehr Offensivgefahr. Reese hielt als klassischer Rechtsaußen den Flügel, während Iyoha diagonal in den Strafraum startete. Eine Aufteilung, die sich auszahlte: Kiel leitete den Ausgleich über die rechte Seite ein (64.), Torschütze Iyoha hatte zudem eine weitere große Chance (72.).

Der HSV überraschte ebenfalls mit einer neuen Anordnung: Kittel wechselte auf die rechte Seite, Bakary Jatta ging nach Linksaußen. Da Kinsombi nun häufiger nach rechts auswich, veränderte sich die Ordnung des Hamburger Spiels. Diese neue Idee funktionierte weniger gut, da Kittel von seinem Spielpartner Leibold abgeschnitten wurde. Jatta und Kittel tauschten kurze Zeit später wieder die Seiten. Kinsombi verblieb jedoch halbrechts – und leitete prompt den Ausgleichstreffer ein (67.). Seiner Flanke auf Torschütze Pohjanpalo ging eine starke Balleroberung voraus. Die Hamburger ballten sich mit fünf Mann auf der halbrechten Seite. Tatsächlich war das Gegenpressing eine der großen Stärken in dieser Partie. Vor allem Hunt und Fein überzeugten, sie rückten nach Ballverlusten aggressiv vor.

Schläfrige Schlussphase

Von Aggressivität war in der Schlussphase nur noch wenig zu spüren. Dieter Hecking hatte im Verlaufe der Partie sein gesamtes Offensivpersonal ausgewechselt. Mit der Einwechslung von Gideon Jung (76., für Kinsombi) agierte der HSV mit einer klassischen Doppelsechs. Jung sortierte sich neben Fein ein. Die Strategie war klar: Die Hamburger wollten kompakt stehen und das Ergebnis halten. Kiel hatte in der Schlussviertelstunde einen Ballbesitzwert von 65%.

Diese Passivität sollte dem Hamburger SV zum Verhängnis werden. Obwohl auch Kiel in der zweiten Halbzeit kräftemäßig merklich abbaute, konnten sie gegen tiefstehende Hamburger auf den Lucky Punch hoffen. Sie jagten Ball um Ball in den Strafraum, selbst Torhüter Ioannis Gelios mutierte in den Schlussminuten zum Stürmer. Dem HSV gelang keine Entlastung. Es kam, wie es kommen musste: Kiels Stürmer Jae-Sung Lee stocherte kurz vor dem Abpfiff den Ball ins Tor (93.).

Bereits zum dritten Mal seit dem Wiederbeginn der Bundesliga hat der HSV in den Schlussminuten wichtige Punkte verschenkt. Dachten die Hamburger beim 2:3 gegen Stuttgart noch zu offensiv, müssen sie sich dieses Mal ihre zu defensive Einstellung ankreiden lassen: Mit der abwartenden Haltung lud der HSV Kiel ein, mit langen Schlägen in den Strafraum den Ausgleich zu erzwingen. Nun steht der HSV in den kommenden Partien gegen Dresden und Osnabrück unter Zugzwang.

 

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