Marcus Scholz

7. November 2020

Im Laufe der Jahre habe ich als Amateurfußballer selbst die komischsten Gebräuche miterlebt. Teilweise habe ich sogar selbst eigene entwickelt. Vor dem Spieltag abends ins Kino beispielsweise war eine Zeitlang ein echt ganz cooler Brauch. Aber anders als bei mir gab es bei Mannschaftskollegen immer wieder Bräuche, die alles für mich Verständliche überschritten. Aberglauben eben, wie sie im Fußball viele pflegen – und ich habe  nichts dazu gesagt, so lange es den Kollegen half. Anders habe ich es gehandhabt, wenn diese Dauerdiskussionen von „Angstgegnern“ und „Negativserien“ aufkamen – denn um die zu akzeptieren war ich immer zu rational. Für mich gab es immer nur Mannschaften, die taktisch gegen uns Mittel gefunden haben oder einfach generell besser waren (kam fast nie vor… ;-)) – und eben die Gegner, gegen die wir die richtigen Mittel hatten.

 

Und ehrlich gesagt: Auch in den Profiligen glaube ich nicht daran, dass unerklärliche Kräfte wirken. Also auch nicht in Kiel. Ich  verneine Begriffe wie „Angstgegner“ komplett und spreche stattdessen lieber von einem Nordrivalen, der richtig Qualität hat. Denn das haben die Kieler zweifellos. Und auch wenn es viele hier nicht gern hören werden – Holstein Kiel ist mir sogar in Teilen sympathisch. Aus dem Amateurbereich sukzessive wieder in die Zweite Liga hochgearbeitet, immer wieder mit dem Problem, die besten Spieler abgeben zu müssen. Und vor allem haben sie immer die Portion Pathos ausgelebt, die ich beim HSV gern mal wieder erleben würde.

Aber zurück zum Wesentlichen, zum HSV: Guido hatte es an dieser Stelle gestern sehr richtig geschrieben, das 3:3 in der vergangenen Saison war einer der Sargnägel auf den verpassten Aufstieg. Der HSV hatte dort Mentalität gezeigt und ein vergleichsweise gutes Spiel absolviert in einer Phase, in der es schon kränkelte. Das 3:3 war zudem leicht vermeidbar und schon deshalb richtig schmerzhaft, da man den Tabellenzweiten VfB Stuttgart mit einem Sieg hätte überholen können und zudem den Vorsprung auf Verfolger Heidenheim ausgebaut hätte – womit wir bei den Faktoren sind, die ich als entscheidend für die gefühlte Niederlage bzw. den Wieder-nicht-Sieg gegen Kiel erachte: Der HSV war dem Druck zuletzt nicht gewachsen.

Kiel als neuer Angstgegner? Was für ein Quatsch! 

Was aber bitte sollte den HSV an diesem Montag in Kiel so unter Druck setzen, dass es wieder keinen Sieg geben kann? Richtig: Nichts! Gar nichts. Dieser HSV hat nichts mit dem der Vorsaison am Hut. Er hat einen neuen Trainer, viele neue Spieler – er hat sogar einen Mentaltrainer, der von dessen Angebote von den Spielern sehr gern genutzt werden. Martin Daxl heißt dieser so genannte Reflexionscoach, über den der zuletzt immer stärker werdende Jan Gyamerah gerade im Abendblatt sagte, dass er dessen Hilfe „sehr gern“ in Anspruch nehmen würde. „Martin ist in der Regel jede Woche zwei bis drei Tage bei uns. Ich habe gemerkt, dass es mir einfach hilft, mich mit ihm zu unterhalten. Ab einem gewissen Level kann ja jeder Fußball spielen. Ich denke aber schon, dass sich auch ganz viel im Kopf entscheidet. Da kann man noch einige Prozente rausholen. Ich weiß , dass ich mich nicht psychologisch analysieren muss. Es geht einfach darum, einige Dinge besser zu reflektieren.“ Stimmt. Wer weiß, wo der HSV heute wäre, wenn man sich letzte wie vorletzte Saison nicht gegen einen Mentalcoach entschieden hätte.

Was ich damit sagen will: Wer seine Möglichkeiten maximal ausschöpft, muss sich vor keiner Serie fürchten, schon gar nicht vor irgendeinem bestimmten Gegner. Wie sonst auch gilt es in jedem Spiel neu zu analysieren, wie man seine Siegchancen maximiert. Und in genau diese Kerbe schlägt Daniel Thioune mit seinem Trainerteam (apropos: Herzlichen Glückwunsch Merlin Polzin!). Er verändert seine Systeme, seine Taktiken und auch sein Personal. Wenn es nötig ist, auch mal gegen alle Erwartungen von außen. Und genau darin haben sich seine Vorgänger Hannes Wolf und noch mehr Dieter Hecking sehr schwer getan. Sie haben ihr Lieblingssystem mehr oder weniger personell unverändert versucht durchzudrücken. Sie haben nimmermüde betont, dass es eh immer nur vom HSV abhänge, wie das Spiel ausgeht. Man dachte hier leider lange Zeit, dass man nur oft genug die eigene Über-Qualität ansprechen müsse, um das entsprechende Selbstvertrauen auch auf den Platz zu bringen. Welch Trugschluss…!

Und das ist beileibe kein Bashing gegen Ehemalige. Ich habe ja selbst das allermeiste von dem geglaubt, was beispielsweise Hecking sagte. Auch ich war überzeugt davon, dass der HSV dafür maßgeblich sei, wie die Spiele ausgingen. Ich habe immer sportliche Ansätze auf dem Platz gesucht und die fehlende Kreativität und Torgefahr für die Misserfolge verantwortlich gemacht. Inzwischen weiß ich es besser. Denn in dieser Zweiten Liga marschiert niemand einfach so durch. In dieser Liga muss man flexibel sein können und auf Gegner reagieren können. Vor allem aber darf man nicht so arrogant sein und glauben, dass man immer selbst entscheidet, was passiert. Denn in dieser Liga kann man am Ball deutlich besser sein – aber genau so schnell schlechter abschneiden als fußballerisch weit schwächere Teams.

HSV legt seine Arroganz ab und entwickelt sich 

Personell wird natürlich aktuell der Doppelpacker Simon Terodde gefeiert. Und das völlig zurecht, wie ich finde. Denn schon seine Präsenz ist ebenso Erfolg bringend und leistungssteigernd für die Kollegen, wie seine Tore dem HSV in der Tabelle helfen. Womit ich zum entscheidenden Unterschied zur letzten Saison komme: Letzte Saison wurde beim HSV vergeblich nach Führungsspielern gesucht. Daher wurden sie mehr oder weniger (Hunt, van Drongelen, Fein) bestimmt, was keinem der angesprochenen Spieler half – und damit der Mannschaft auch nicht. Aktuell dagegen hat der HSV einen Mannschaftsrat aus verbal führenden Spielern zusammengestellt, der funktioniert. Selbst wenn diese fünf (Leibold, Leistner, Gjasula, Kinsombi, Mickel) nicht spielten, hatte der HSV mit Hunt und noch mehr mit Ulreich im Tor sowie  Terodde vorn Spieler, die sportlich die komplette Führung übernahmen, ohne daraus anschließend irgendwelche Ansprüche abzuleiten. Alle drei sind bescheidene, erfahrene Teamplayer, die mehr liefern als sabbeln. Und an ihnen wachsen die Ambrosius‘, Onanas, Wintzheimers und Vagnomans dieser Welt gerade deutlich sichtbar. Oder anders formuliert: Der HSV entwickelt sich.

Vor allem entwickelt er sich weiter. Der aufgeschlossene Trainer, die Kaderzusammensetzung, der Reflexionscoach und die neue Attitüde passen endlich zum Leistungsstand. Allein dadurch entsteht schon kein zu großer Druck. Es wird endlich wieder der Weg zum Ziel gemacht. Soll heißen: Keine Überschätzungen mehr, was sich in Thiounes Ansagen und Verhalten glaubhaft wiederspiegelt. Egoismen werden hintenan gestellt – mit Terodde gibt es ein alles überbordendes, leuchtendes Beispiel, an dem sich alle orientieren können. Und man ist sich nicht mehr zu fein, sich natürliche Schwächen einzugestehen und Hilfe wie die vom Reflexionscoach anzunehmen.

Pressekonferenz von Holstein Kiel vor dem Spiel gegen den HSV

 

Dass in dieser Phase ein Vertrag vom Sportlich Verantwortlichen wie Sportvorstand Jonas Boldt verlängert wird und die Verträge von seinen direkten Mitarbeitern Michael Mutzel (Sportdirektor), Claus Costa (Chefscout) und sowieso Horst Hrubesch (Nachwuchs-Chef) verlängert werden sollen -  absolut logisch. Und dennoch besteht in genau dieser Situation die große Gefahr, dass wie in den letzten Jahren aus der logischen Konstanz eine Form der Gemütlichkeit auf Führungsebene entsteht. Wie ich das meine? Ganz einfach: Gerade jetzt muss der HSV darauf achten, dass in der Führung weiter ein gesunder Diskurs geführt wird.

Soll heißen: Boldt und Wettstein wären gut beraten, sich starke Partner ins Boot zu holen, die ihr Wirken hinterfragen. So, wie es Thioune mit der Mannschaft getan hat und weiter macht (Beispiel: Hunt nicht mehr Kapitän, Heuer-Fernandes ersetzt, Gjasula auf der Bank, etc.). Ungemütliche Meinungen müssen ausgesprochen werden und letztlich zu gemeinsamen Entschlüssen geführt werden. Nur dann wird dieser erfolgreiche Weg weitergegangen werden können. „Beim HSV kracht es früher oder später eh wieder“ und „irgendwann zerfleischen sich die Gremien eh wieder“ heißt es oft. Und auf die letzten Jahre bezogen stimmte das. Aber auch hier gilt wie schon beim Geschwafel von einem so genannten „Angstgegner“: Man kann es sehr leicht und mit sehr irdischen Maßnahmen ändern. Zumindest, wenn man bereit ist, auch in guten Phasen Veränderungen zuzulassen und sie durchzusetzen.

Neue Konstanz darf nicht zum Selbstzweck werden

Ich schreibe das, weil ich im Gegensatz zu den allermeisten hier glaube, dass das Zweiergremium im Vorstand wider der Beteuerungen der Beteiligten eben nicht die beste Lösung ist. Sie ist eher die gemütlichste, weil sich Wettstein und Boldt gegenseitig nicht in die Quere kommen. Beide sind in ihren Wirkungsbereichen weitgehend autonom. Aber so oft Boldt und Wettstein auch betonen, im Sinne der Sache zu harmonieren und trotz des aktuell positiven Saisonverlaufes muss meiner Meinung nach auch hier Bewegung drinbleiben. Von daher sollte auf Sicht ein dritter Vorstand gefunden  werden.

Voraussetzung: Er MUSS  den aktuellen Weg zu 100 Prozent akzeptieren und eine Vorstellung haben, wie man diesen weitergeht. Das lässt sich in Vorgesprächen sehr gut herausfinden, wenn man sich Mühe gibt.  Dabei sollten die Kontrolleure auch darauf achten, dass der Neue den eingeschlagenen Weg auf seine Art auch immer wieder (ausgestattet mit dem entsprechenden Wirkungsgrad) hinterfragt. Die Zeiten, in denen Alleinverantwortlichkeiten wie beispielsweise sportlich von Hecking oder auf Führungsebene seinerzeit von Bernd Hoffmann eingefordert wurden, müssen vorbei sein. Sie funktionieren zeitlich eh immer nur sehr bedingt. Deutlich mehr Dynamik entsteht meiner Meinung nach, wenn ein hohes und gesundes Maß an Meinungsvielfalt die Analysen komplettiert. Das geht auf harmonischem Weg. Das darf aber gern auch produktiv-kontrovers sein. In etwa so, wie es dem Vernehmen nach im Trainerteam unter Daniel Thioune funktioniert.

Letztgenannter kann im Spitzenspiel bei Holstein Kiel wieder aus dem Vollen schöpfen. Neben dem Langzeitverletzten Rick van Drongelen fällt nur noch Gideon Jung aus, sofern heute und morgen beim Abschlusstraining nichts Unerwartetes passiert. Von daher hat der HSV nach irdischen Maßstäben (und nur darüber wird Thioune mit seiner Mannschaft sprechen) allerbeste Voraussetzungen, mit der richtigen Einstellung auch das nächste Spiel zu gewinnen. Geht es nach dem heutigen Training, wäre übrigens das die vermeintliche Startelf: Ulreich – Gyamerah, Ambrosius, Heyer – Vagnoman, Onana, Kinsombi, Leibold – Hunt, Wintzheimer -Terodde. Also lediglich eine Änderung (Kinsombi für Narey) gegenüber der Derby-Startelf.

Eine gute Wahl! Finde ich zumindest. Aber was sagt Ihr?

In diesem Sinne, bis morgen! Heute freue ich mich erst einmal über die Ergebnisse der Verfolger Bochum (verliert 0:2 gegen starke Fürther) sowie von Hannover (0:0 gegen Aue) und über das 1:1 zwischen Nürnberg und Düsseldorf. Auch Thioune und Co. wird es nicht ärgern. Aber es wird das Vorgehen des HSV am Montag eben auch nicht (mehr) beeinflussen.

Bis morgen!

Scholle

 

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