Marcus Scholz

6. Juni 2020

Es muss eigentlich gar nicht mehr so schwer genommen werden, denn genau DAS ist der HSV von heute. Das nur vorweg.

Denn ich weiß, dass das Thema Nachwuchs hier seit jeher ein sehr heiß diskutiertes Thema ist. Zugegeben: Weil der HSV sich auf diesem Gebiet in den letzten Jahren nicht besonders erfolgreich angestellt hat. Wenn mal etwas aufgebaut wurde, dann zerschossen es sich die Verantwortlichen schnell wieder selbst. Dass sich dennoch in den letzten Jahren Spieler wie Jonathan Tah und jetzt Josha Vagnoman entwickeln konnten – es ist im dreifachen Sinne sogar zunächst einmal großes Glück für den HSV. Denn zum einen gab es viel Geld für Tah, zum anderen hat man mit Vagnoman sportlich eine neue Konstante gefunden – und zuletzt können die beiden als Erfolgsgeschichten in die Vita der Nachwuchsarbeit eingetragen werden.

Vor allem aber, und damit greife ich der inhaltlichen Diskussion über die Nachwuchspolitik des HSV vor: Der HSV MUSS seine Talente ausbilden und verkaufen, wenn er sich irgendwann von externen Geldgebern emanzipieren will. Über sportliche Erfolge seine Finanzen zu regulieren funktioniert in der Zweiten Liga allemal nicht. Das funktioniert nur über internationale Wettbewerbe mit entsprechenden Zusatzeinnahmen. Aber davon ist der HSV noch Jahre entfernt. Realistisch betrachtet. Von daher bleibt nur der Weg über die eigene Ausbildung. Und da gehört der Verkauf mit all seinen Trennungsschmerzen leider unvermeidlich dazu.

Trennungsschmerz wird beim HSV zum Alltag 

Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass meine Vagnoman-Story viele verärgert hat. Auch ich halte extrem viel von dem jungen Rechtsverteidiger, wie ihr nicht erst gestern nachlesen konntet. Vagnoman hat für mich tatsächlich das Rohmaterial, aus dem wirklich gute Trainer einen Spitzenfußballer formen können. Nicht umsonst vergleiche ich ihn gern mit Jerome Boateng, als dieser mit v18 Jahren zum HSV kam. Er hatte gerade ein halbes Jahr bei Hertha BSC in der Ersten Mannschaft mitgemacht und dort schon tolle Ansätze gehabt. Beim HSV wurde er von Huub Stevens als Rechtsverteidiger einfach reingeworfen. Im ersten Spiel gleich mal gegen den FC Bayern (1:1), wo er auf Franck Ribery traf – bis dieser ausgewechselt wurde. Ich weiß sogar noch heute, wie das Spiel (Mohamed Zidane traf spät zum Ausgleich nach einem Miro-Klose-Treffer für die Bayern) lief, da ich mich auf der Tribüne neben meinem Freund und langjährigen HSV-Begleiter Dieter Matz kaum beruhigen konnte und ihn immer wieder vollschwallte, was für einen Rohdiamanten der HSV da gefunden hatte. Und nein: Den Begriff Rohdiamant lest ihr hier im Blog nicht so inflationär wie sonst. Ich achte schon ein wenig darauf, zwischen großen Talenten und eben jenen Rohdiamanten zu unterscheiden.

 

Vagnoman ist meiner Meinung nach so einer. Er ist schnell, technisch stark, hat U-Nationalmannschaftserfahrung, hat ein extrem gutes Nervenkostüm, ist bodenständig, fleißig. Er bringt tatsächlich alle physischen und psychischen Voraussetzungen mit, um genau so wie Boateng damals sofort Stammspieler zu werden. Ohne Verletzung wäre er es sogar schon längst, behaupte ich. So leid mir das für Jan Gyamerah und Jordan Beyer auch tut. Aber auch bei Boateng wissen wir, wie die Geschichte endete. Und das, obwohl der HSV damals sogar erfolgreich international vertreten war. Aber damals wie heute war es das liebe Geld, das allem übergeordnet wurde und das der funktionierenden Ehe zwischen Spieler und Klub das Aus brachte.

Der HSV von heute ist ein Ausbildungsverein

Wobei man es so klar sehen muss: Heute hat der HSV noch mal deutlich weniger Möglichkeiten, Geld abzulehnen. Im Sommer wurden schon einmal acht Millionen Euro abgelehnt, weil man glaubt, dass Vagnoman schon sehr bald sehr viel mehr Wert ist. Junge, talentierte Außenverteidiger sind auch tatsächlich rares Gut auf dem Transfermarkt. Und ernsthaft zu glauben, dass der HSV als Zweitligist die Möglichkeit hat, einen Spieler unter diesen Voraussetzungen zu halten ist naiv – um nicht utopisch zu schreiben. Oder?

Wir können hier ja mal ein wenig rumspinnen und uns ein Konstrukt ausdenken, das vielleicht unrealistisch ist, das aber funktionieren könnte. Und ich mache gern den Anfang: Denn meiner Meinung nach gäbe es diesen einen, kleinen Ausweg – aber das wäre mit externen Geldgeber zwingend nötig mit dessen Bereitschaft verbunden, dem HSV wirklich nur helfen zu wollen. Dabei könnte der HSV eine legale Form der Spielerbeteiligung anbieten. Eine Art Investition in Spielerwerte, was zwar schwierig klingt – was es aber tatsächlich gar nicht ist.

 

 

Zum Modell: Mal angenommen, im Sommer steigt der HSV auf und muss zusehen, einen Erstligakader zusammenzustellen, dann wäre Vagnoman sicher einer der Spieler, von dem man sich zum einen das sportliche Potenzial dafür verspricht. Zum anderen dürfte man wirtschaftlich betrachtet damit kalkulieren, dass sich der junge Außenverteidiger in dem Jahr Erste Liga in den Fokus einiger internationaler Klubs spielt und so seinen Marktwert noch einmal signifikant gegenüber diesem Sommer steigern kann. Ergo: Man hätte sportlich eine Verstärkung und würde ein oder zwei Jahre später sogar noch mehr Ablösesumme einbringen. Denn in diesem Bereich haben die Verantwortlichen mit der Verlängerung des Vertrages bis 2024 vorausschauend gut gearbeitet. Das einzige Problem: mit Klaus Michael Kühne hatte Bernd Hoffmann vor vielen Jahren mal so ein Modell – namentlich „Hoch3“ angeschoben und den Milliardär dabei in der Ausführung „enttäuscht“, um es diplomatisch auszudrücken. Dennoch wäre diese Art Risikoinvest bei korrekter Kommunikation zumindest ein Weg, über Darlehen Gelder zu generieren, die man nur im Erfolgsfall zurückzahlt. Ähnlich den Besserungsscheinen. Aber ich bin mir eh sicher, dass Frank Wettstein derartige Konstrukte in Massen in seiner Aktentasche hat. Er musste in den letzten Jahren immer wieder findig sein, um die dramatischen Bilanzen nach außen weniger schlimm aussehen zu lassen

Aber das ändert nichts daran, dass die Situation finanziell dem HSV Probleme macht. Bis es irgendwen gibt, der derartige Risiken einzugehen bereit ist, muss der HSV es ganz solide versuchen. Und da stehen die Fakten Euren/unseren Wunschszenarien leider entgegen. Denn Fakt ist, dass der HSV ein Zweitligist mit finanziellen Problemen ist. Aus dem normalen Ligageschäft wird sich das nicht verbessern – eher bei Zweitligaverbleib verschlechtern. Und das Spielermaterial hat nur ausnahmsweise Potenzial für größere, unerwartete Einnahmen. Siehe eben jenen Josha Vagnoman. Soll heißen: Bitte, liebe alle hier: Gewöhnen wir uns endlich an den Status Quo und hören wir auf, so zu tun, als könnte sich der HSV es leisten, ein 10-Millionen-Angebot abzulehnen. Wobei es fast egal ist, für welchen Spieler. Es ist das Erbe der dramatischen Misswirtschaft der letzten Jahre, das dem HSV wie jedem anderen auch irgendwann auf die Füße fallen musste. Und es wird ohne außergewöhnliche Maßnahmen von außen auch viele Jahre dauern, bis man das wieder halbwegs regenerieren kann.

Die besten Talente müssen abgegeben werden

Und das wird wehtun. In Form von Verkäufen wie dem von Vagnoman und anderen Talenten. Sehr oft – wenn es gut läuft für den HSV. Denn der muss in den nächsten Jahren das Ziel haben, ein Talent teuer abzugeben, um im nächsten Moment zwei Toptalente nachzulegen – die man auch verkauft. Gewinnbringend. Ein Kreislauf, aus dem der HSV aktuell aus eigenen Mitteln nicht imstande ist, auszutreten. Das ist die bittere Realität – und der müssen wir ins Auge sehen. Anstatt es den Verantwortlichen vorzuwerfen, über derlei Verkäufe nachzudenken, sollten wir vielmehr fordern, dass der HSV den Weg über die eigene Talentausbildung maximiert. Wobei hierzu auch Verpflichtungen von Spielern gehören, die ihren Wert beim HSV steigern.

Denn, um das noch einmal ganz klar zu sagen: Der HSV ist ein Ausbildungsverein. Er hat sich in den letzten Jahren trotz (und gerade wegen!) der knapp 100 Millionen Euro Investition Klaus Michael Kühnes dazu gemacht. Und da der Weg über eine Zusammenarbeit mit Kühne oder anderen externen Geldgebern schwerlich so definiert werden wird, dass er dem HSV ohne Risiko einen Ausweg in Aussicht stellt, müssen wir sogar darauf hoffen, dass der HSV in den nächsten Jahren jedes Jahr einen Tah oder Vagnoman ausbildet und verkaufen kann. So weh diese Trennungen auch tun werden – sie sind der aktuelle Weg. DAS ist der HSV von heute. So viel zum Thema Talentausbildung und schmerzhafte Spielerverkäufe. Passend hierzu: Im Drittliga-Spiel zwischen Hansa Rostock, wohin HSV-Talent Aaron Opoku ausgeliehen ist, und dem SV Meppen hat der talentierte Flügelflitzer beim 3:0-Sieg gleich doppelt (8., 27.) getroffen.

Sportlich gab es heute nur ein nicht-öffentliches Training und ich werde mich morgen wieder dem Spiel gegen Holstein Kiel widmen. Zusammen mit meinem Freund und Kollegen Christian, der die Kieler durchanalysiert, werde ich Euch morgen hier wieder den umfangreichsten Vorbericht zum Derby einstellen.

Bis dahin!

Scholle

FAQs

 
 

Über uns

Die Rautenperle - das ist ein Team aus jungen Medienschaffenden und Sportjournalisten mit großer Affinität zum HSV. Wir sind 24/7 bei den Rothosen am Ball und produzieren frischen Content für Rautenliebhaber.

Unser Ziel ist es, moderne, unabhängige Berichterstattung und attraktiven, journalistischen Content für junge und jung gebliebene HSV-Anhänger zu bieten. Wichtig ist uns dabei, eine neue Art des Sportjournalismus zu präsentieren: dynamisch, zeitgemäß, zielgruppengerecht. Weg von verstaubten Zeitungsspalten und immergleichen Phrasen.

Die Rautenperle ist aber nicht nur ein Ort, um sich zu informieren, sondern soll auch immer ein Ort des Austausches und des Miteinanders sein. Wir wollen eurer Leidenschaft einen Platz im Netz bieten: zum Diskutieren, zum Mitfiebern, zum Mitmachen.