Marcus Scholz

5. Juni 2019

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Ambivalenz ist ein Fremdwort. Das wissen sicher die allermeisten von uns. Auch die Fußballer, die schon früh den Fußball über jedes Buch stellten und heute eher das einfache Vokabular bevorzugen. Dennoch behaupte ich, dass nicht jeder weiß, wie sehr dieser Begriff inzwischen zum Fußballbusiness dazugehört. Auch die nicht, die eben noch demonstrativ das Logo ihres Vereines vor der Fankurve ihres Klubs  küssen, um eine Viertelstunde später für 3,50 Euro mehr den Klub für einen anderen verlassen. Hakan Calhanoglou war so ein Fall beim HSV. Einer, der durch seine Doppelmoral bekannt wurde. Aber er war eben auch nur der Fall, der bekannt wurde. Die meisten derartigen Fälle blieben und bleiben unter dem Radar, weil auch der abgebende Klub am Ende davon profitiert, wenn sie plötzlich für was Besseres alle eben noch geäußerten Treueschwüre über Bord werfen. Weil die Klubs die Ablösen kassieren. Und Fakt ist auch: Die Klubs selbst leben ihren Spielern dieses ambivalente Verhalten vor.

Beispiele dafür gibt es genug. Denn nicht jedes mal, wenn ein Spieler in die so genannte „Trainingsgruppe B“ gesteckt wird, ist der Spieler allein daran schuld. Oft sind es die Vereine, die durch Personalwechsel auch im Kader Umstellungen forcieren und damit bestehende Verträge aushebeln wollen. Das passiert immer wieder - nicht nur, aber eben auch beim HSV. Julian Pollersbeck beispielsweise wurde eindringlich empfohlen, sich einen neuen Verein zu suchen. Okay, das ist noch nicht der Status Trainingsgruppe B, aber auch hier wird aus einem gefeierten Transfer ein Abschiebespieler, der am besten noch ordentliche Ablösesumme einbringen soll.

Das alles ist inzwischen „normal“.

Ich erinnere mich noch sehr gut: Schon nach zwei Monaten im neuen Job war auch ich komplett entzaubert, was Moral und Loyalität im Profifußball betrifft. Ich weiß noch ganz genau, wie ich Anfang 2000 beim HSV meine ersten Schritte als HSV-Reporter fürs Abendblatt machte und damals den HSV und seine Spieler nur vom Zusehen her kannte. Mein Vater hatte drei Dauerkarten gekauft und ich war immer dabei und sah, wie sich die Mannschaft von Frank Pagelsdorf damals sehr gut entwickelte. Es wirkte nach außen so, als hätten die Spieler richtig Spaß - auch miteinander. Es wirkte tatsächlich so, als stünde dort ein richtig gutes Team auf dem Platz. Eines, das meinem Ideal recht nahe kam. Und ich kann über mich behaupten, dass ich in meinen Mannschaften Teamgeist immer über alles andere gestellt habe. Für mich waren Moral und Zusammenhalt die größten Antriebsfedern auf dem Weg zum Erfolg. Aber ich war auch nur Amateur.

 

 

Denn diese Einstellung haben schon viele Bekannte aufgegeben, die es weiter nach oben in den Profifußball gebracht haben. Man ändert sich. Ganz sicher. Je höher die sportlichen Anforderungen desto weniger zählen Moral und Loyalität. Der Kampf um die größten Talente, die besten Spieler und den größten Profit stellen alles in den Schatten. Überall. Bei Spielern nicht mehr und nicht weniger als bei den Klubs selbst. Dass trotzdem beide Seiten immer wieder von „Charakter“ sprechen und diesen als Indiz für Qualität in ihre Leitbilder einbauen, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Zumindest aber nenne ich auch das ambivalent, denn der Profifußball hat nur in den allerwenigsten Ausnahmen noch etwas mit Moral und Anstand zu tun.

 

Wen wundert da der Wechsel von Pierre Michel Lasogga wirklich? Mich nicht! Dass er einfach nur das große Geld will und dem alles unterordnet, ist seine Entscheidung. Er kassiert sensationelle 12 Millionen Euro netto, wie die Kollegen von der BILD berichten - und er ist sportlich seit diesem Wechsel ins Nirvana verschwunden. Und das weiß er auch ganz genau, das nimmt er in Kauf. Das lässt er sich sozusagen abkaufen und er wird in den nächsten Jahren mit seiner Familie in einem der reichsten Länder der Welt ein fürstliches Leben leben können. Er beruft sich auf seine freie Entscheidung für ein Land, das Amnesty International als „nicht frei“ einstuft. Auf einer Skala der politischen Rechte und Freiheitsrechte von 1 (größte Freiheit) bis 7 (geringste Freiheit) wird Katar in einem Bericht von „Freedom in the World” als nicht frei (6) bezüglich politischer Rechte und nicht frei (5) bezüglich Freiheitsrechte eingestuft. Lasogga interessiert das ebenso wenig wie die moralisch ambivalenten FIFA-Funktionäre, die sich für Gleichberechtigung auf Werbepostern abdrucken lassen und zugleich einem Land wie Katar die WM zuschustern.

Was das alles mit dem HSV zu tun hat? Alles. Denn diese Ambivalenz ist beim HSV genauso zuhause wie auch sonst überall im Profifußball.

 

Es wird erzählt, was sich gut verkaufen lässt. Populismus hat Hochkonjunktur. Beim HSV sind es Widersprüche wie die Verkündung eines der teuersten (wohl gemerkt nicht des besten!) Kaders der Zweiten Liga, während man auf der anderen Seite davon spricht, die Ansprüche von außen an den HSV realistischer gestalten und dementsprechend herunterschrauben zu müssen. Es soll hier ein HSV entstehen, der sich aus dem eigenen Nachwuchs, dem besten Scouting und den finanziell smartesten Transfers zusammenstellt. Man proklamiert, sich mit Hausmitteln aus dem selbst verschuldeten Schlamassel ziehen zu wollen - und erhöht im Jahr nach der großen Enttäuschung mit dem verpassten Wiederaufstieg den Spieleretat noch einmal um eine Million Euro, wie die SportBild heute berichtet. Ambivalentes Handeln eben. Es passt allemal zu der Ambivalenz, die mir im März/April 2000 die letzten romantischen Gedanken über den Profifußball raubte.

Dass sich bei dem Wechsel in die Wüste Lasoggas Wortspiele quasi aufdrängen - logisch. „Viele Fans haben ihn in die Wüste gewünscht - jetzt geht er freiwillig“ hat gestern jemand bei Facebook kommentiert. Und das fand ich ganz witzig. Für ein wenig Spaß sollte auch immer Platz sein. Lasogga aber dafür zu verurteilen, dass er sich mehr für (viel mehr) Geld als für eine sportliche Herausforderung interessiert, das kann ich - aber ich sehe eben auch, dass er sich nur anpasst. Zumindest sind er und seine Entscheidung für mich nicht schwieriger zu akzeptieren als 99 Prozent der restlichen Fußballprofis und -funktionäre. Wer Football Leaks gelesen hat, wird wissen, was ich meine -und mir zustimmen.

Was aber bleibt? Ein kleiner Funken Rest-Hoffnung, klar. Dass es in Hamburg irgendwann einmal wohltuend anders wird. Und es bleibt die Beurteilung der Leistung an sich. Auch deshalb ist die Entscheidung von Christian Titz, noch einmal in die Regionalliga zurückzugehen, für mich kein Rückschritt. Zumindest solange nicht, wie er sich dort mit Leistung empfehlen und das Projekt so voranbringen kann, wie er es heute verkündete. „Natürlich wird das ein hartes Stück Arbeit, aber ich bin es gewohnt, die Ärmel hochzukrempeln und die Aufgaben anzugehen. Wir wollen in der nächsten Saison Vollgas geben und dafür brauchen wir den gesamten Verein und damit jeden einzelnen Rot-Weissen da draußen. Ich habe das als Trainer immer ligaunabhängig gesehen. Ich möchte einen Verein trainieren, der Ziele hat und den ich weiterentwickeln kann. Das waren wichtige Parameter für mich. Wir wollen nicht gegen den Abstieg spielen, sondern uns an der oberen Tabellenregion orientieren“, sagte Titz über seinen neuen Job, der übrigens auch gut bezahlt wird. Ein Sponsor/Investor hatte sich sehr um Titz’ Dienste bemüht und setzt auch sonst finanziell viel daran, den Traditionsklub innerhalb der nächsten fünf Jahre bis mindestens in die Zweite Liga zu bringen. Klingt zumindest nach einer sportlichen Motivation, oder? Trotzdem wird es mehrheitlich belächelt…

Ich muss nicht mögen, was die beiden HSV-Abgänge vorhaben - wobei ich Titz’ Projekt tatsächlich ebenso mutig wie spannend finde. Fakt ist auch, dass beide beim HSV nichts verbrochen haben, sondern tatsächlich nach ihren Möglichkeiten versucht haben, ihre Arbeit zu machen und dem HSV zu helfen. Und schon deshalb gehört es sich für mich zum Abschluss dazu, den beiden viel Erfolg zu wünschen. Ohne jeden Hintergedanken.

Ich bin tatsächlich froh, dass ich im Amateurbereich zumindest noch teilweise andere Denkweisen antreffe. Obwohl sich in Sachen Prioritäten auch hier vieles dem Profibusiness angleicht. Und: Es ist mir tatsächlich auch egal, dass mich hier einige dafür verurteilen werden, dass ich wider besseres Wissen auf eine Rückkehr zu alten Werten hoffe. Denn Fakt ist: Ich glaube daran, dass man nicht immer alles mitmachen muss, um zu gewinnen. Ich glaube ans Risiko. Ich glaube daran, dass man andere Wege gehen muss, wenn man sich von anderen absetzen möchte. Das ist ebenso riskant wie chancenreich. Mit anderen Worten: Ich glaube an das, was der HSV in den letzten gefühlt zehn Jahren nicht gemacht hat…

In diesem Sinne, transfertechnisch ist heute nichts passiert. Abgesehen von dem aufgekommenen Gerücht, dass der Magdeburger Offensivspieler Philip Türpitz (27) beim HSV auf dem Einkaufszettel stehen soll. Aber dazu mehr, wenn sich der HSV dazu geäußert hat.

 

Bis morgen!

 

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