Marcus Scholz

20. Januar 2019

 

Der Tag ein nach der Wahl begann für Marcell Jansen so, wie der alte aufgehört hatte. Er musste jede Menge Gratulanten bedienen, deren Nachrichten beantworten, was schon eine ganze Menge Zeit beanspruchte. Dennoch, und das wusste Jansen sofort, nachdem er am Sonnabend gewählt worden war: Viel Zeit zum Feiern bleibt ihm nicht. Ehrlich gesagt gibt es außer den Wahlsieg sogar nichts zu feiern. Denn die Probleme des HSV bleiben und wurden gestern auf der Mitgliederversammlung noch mal sehr deutlich.

Mich hat die Veranstaltung trotz aller Harmonie während der knapp zehn Stunden in der edel-optics Arena in Wilhelmsburg erschreckt. „Ich habe nach sechs Stunden echt keinen Bock mehr“, „ich habe nachher noch ne Feier“ und ähnliche Ansagen gab es gestern, nachdem Jansen zum Präsident gewählt worden war und sich die Halle von 1400 Mitgliedern schlagartig auf gerade einmal 400 (!) Wahlberechtigte leerte. Einige, so ist auch bei uns im Chat bei Twitter zu lesen, hatten sogar nicht mal mehr auf dem Zettel, dass im Anschluss noch existenzielle Themen zur Abstimmung anstanden. Die Antragsteller der Briefwahl waren sogar nicht einmal mehr in der Halle, als ihr Antrag behandelt wurde. „Bitter“ reicht da nicht mehr als Beschreibung. Das ist peinlich. Das ist schlimm.

Es zeigt nämlich deutlich, wie leicht dieser Verein inklusive seiner Tochter, der Fußball AG, unkontrolliert an die Wand gefahren werden kann. Und das, obwohl Jürgen Hunke (dessen Rückzug vielen zurecht aufstieß) und viele andere die Zahlen des HSV als bedrohlich einstuften. Nun kann man sagen, Hunke sei der falsche Absender. Und angesichts seines Standings bei vielen stimmt das vielleicht auch. Aber gerade das beweist auch wieder das größte Dilemma: dass es beim HSV lange nicht mehr und Inhalte sondern geht. Sagt der falscher das Richtige nimmt ihn keiner ernst. Sagt der Richtige das Falsche, wird er gefeiert. Und nur um das klarzustellen: Ich traue Marcell Jansen intellektuell deutlich mehr zu als die meisten anderen hier. Ich habe den Ex-Profi als einen sehr smarten, strategisch denkenden und mit dem Herzen am rechten Fleck kennengelernt. Aber geht man allein nach Inhalten, war Ralph Hartmann nicht nur gestern sicher der fachlichste Kandidat. Jansens Kernbotschaft, man müsse als e.V. und AG eng zusammenrücken ist gut und richtig - aber sie birgt die Gefahr des Kontrollverlustes über eine AG, die gestern fast ausschließlich mit schlechten Nachrichten in launigen Vorträgen verpackt aufwartete - und unentdeckt blieb. Es wurde eben alles so gesagt, wie es die Leute hören wollen.

Glück für alle Verantwortlichen: Als eben das so richtig deutlich wurde, waren die meisten schon weg. Es waren eben nur noch diese knapp 400 Mitglieder, die mitbekamen, wie bei der Abstimmung über die Verkaufsobergrenze von 24,9 Prozent für die AG-Anteile plötzlich deutlich gesagt wurde, dass man sich weitere Anteilsverkäufe eben doch vorstellen könne. Thomas Schulz hatte auf der Bühne dafür plädiert, dem Vorstand bis zum Ablauf der Frist (16. Juli) dieses Mittel der Geldbeschaffung offen zu lassen. „Es ist das letzte Mittel, dass der Vorstand hat, um sich weiteres Eigenkapital zu beschaffen“, so Schulz, der zwar betonte, man habe es nicht vor - aber es wurde mehr als deutlich, dass sowohl dem Präsidium des e.V. als dem AG-Vorstand momentan die Alternativen zu weiteren Anteilsverkäufen fehlen. Vizepräsident Schulz kämpfte zwar aufopferungsvoll für die Option des Vorstandes, weitere Anteile zu verkaufen. Aber Schulz’ durchaus diskutables Argument, man könne weitere Anteile verkaufen und das Stimmrecht des e.V. entsprechend in der Satzung anpassen zog schon deshalb nicht mehr, weil ein großer Teil der Ultras auf diese Abstimmung gewartet und dadurch die Mehrheit in der Halle sichergestellt hatte, den Antrag durchzuwinken. Das Ergebnis war eindeutig: Bei ganz wenigen Gegenstimmen wurde der Antrag angenommen.

Der erklärte  Wunschkandidat des AG-Vorstandes und des e.V.-Präsidiums, Marcell Jansen, hatte die Frage nach einem Verkauf über die 24,9 Prozent hinaus als einziger der drei Kandidaten immer wieder umschifft. Auch gestern. Jetzt aber hat der neue, jüngste HSV-Präsident aller Zeiten das klare Votum der Mitglieder und damit den Auftrag bekommen, eben diese Verkaufsobergrenze in der Satzung zu verankern. Macht er es nicht und der HSV verkauft weitere Anteile zwecks Kapitalbeschaffung - bis zu 33,3 Prozent sind bis zur Installation dieses Passus’ in der Satzung weiterhin möglich -, dann dürfte er große Probleme mit seinen Wählern bekommen. Oder? Es darf gezweifelt werden. Denn geht man mal nach dem gestrigen Interesse für diesen Passus, dürfte es zwar einen kurzen, vielleicht sogar lauten Aufschrei geben. Mehr aber auch nicht.  Und wie das mit Wahlversprechen und um deren Einhaltungen bei den HSVern bestellt ist, wissen wir nicht erst seit den Wahlen 2018.

Nimmt man die Tendenzen von gestern und die der letzten Wochen/Monate als Grundlage einer Prognose für den HSV, dann muss man sich große Sorgen machen. Was ich meine: Die finanzielle Lage ist trotz des Vortrages Wettsteins von gestern offenbar so schlecht, dass man sich nach der Verarschung mit der ersten Anleihe 2012, die man durch einen schon rechtlich betrachtet fragwürdigen Kniff im Kleingedruckten entfremden und zur Deckung der Liquidität nutzen konnte, nicht einmal zu schade ist, die Fans noch ein zweites Mal um ihr Geld zu bitten. Nachdem man im letzten Jahr übrigens Unternehmen um 40 Millionen Euro angepumpt hatte. Bei den Fans soll es wieder sieben Jahre laufen und wieder zu sechs Prozent verzinst werden - und diesmal zumindest auch offen formuliert, um bestehende Lücken zu decken. Schulden machen, um Schulden abzubauen. Wie der HSV im Laufe der sieben Jahre schon die Anleihe ablösen will, weiß indes nur Finanzvorstand Frank Wettstein, der gestern das simpelste aller Mittel nutzte, um von eigenen Fehlern und Missständen abzulenken, indem er einfach mal auf die Presse losging.

Was mal wieder fehlte, war ein konkreter Plan, wie die Schulden abgebaut werden sollen. Es gab gestern wieder nur Zahlen, die die meisten in der Halle gar nicht zuordnen konnten. Den meisten reichten clever eingefügte Schlüsselwörter, um sich beruhigen zu lassen. „Die Lage ist schwierig. Aber sie ist vielleicht nicht dramatisch. Klubs, die sechs, acht, meinetwegen auch zwölf Jahre hintereinander Fehlbeträge erwirtschaftet haben, den kann es nicht gut gehen. Die Klubs, die aus der ersten in die Zweite Liga absteigen, denen kann es auch nicht gut gehen. Wenn ich aber lesen muss, dass die laufende Saison nicht durchfinanziert ist, dann sträuben sich mir die Nackenhaare… Ich kann ihnen versichern, die laufende Saison ist sowas von duschfinanziert“, sagte Wettstein gestern unter großem Applaus der Mitglieder und fügte an, man habe eine Liquidität von 15 Millionen Euro vorrätig, womit die laufende Saison komplett gesichert sei.

Mehr noch, auch eine zweite Saison in der zweiten Liga sei gesichert. Darauf würden alle vertrauen, die Banken, die DFL, der Vorstand und der Aufsichtsrat. Sätze, die wir uns auf Wiedervorlage legen sollten. Denn es wird nicht lange dauern, bis der HSV die Lizenz einreichen und dafür offenlegen muss, wie er die neue Saison finanzieren will. Die geplanten Einnahmen von wieder einmal 17,5 Millionen Euro aus der Anleihe sind dabei schon jetzt ein entscheidender Faktor. Zumal man damit die Anleihe aus 2102 im Seoptember bedienen muss. Fazit: Es werden weitere größere Einnahmen nötig werden, die aus dem laufenden Spielbetrieb nicht zu erzielen sind.

Noch mal, um das in aller Deutlichkeit zu sagen: es geht mir hier nicht um einzelne Personen. Wirklich überhaupt nicht. Es geht mir nicht um Wettstein, nicht um Hunke, Hartmann, Jansen, Hoffmann, Schulz, Becker oder sonstwen. Und: Dass Populismus immer wieder Inhalt und Qualität schlägt, das hat der HSV längst nicht exklusiv. Das ist sogar in er Weltpolitik erprobt. Auch dass sich die aktuell Verantwortlichen gestern nicht hinstellen und weinen, während sie vom drohenden Untergang berichten - logisch! Es wäre sogar vereinsschädigend. Vielmehr MÜSSEN sie die Situation immer auch ein wenig schöner malen, als sie ist. Aber wirklich schlimm ist, dass immer nur Lösungen versprochen und dann nicht gefunden werden.

Angefangen mit den Investoren, die bei HSVplus 2014 angeblich Schlange standen aber bis heute nie aufgetaucht sind. Nein, es muss allen trotz der schönen Worte und dem vielen Applaus von gestern klar sein, dass die Lage gefährlich war, ist - und auch bleibt. Soll heißen: Alle diejenigen, die gestern mit roten Händen vom vielen Applaudieren aus der Veranstaltung gingen und der Meinung waren, mit dem neuen Präsidenten habe man jetzt den entscheidenden Schritt aus der Krise machen können, irren. Vielmehr gibt es seit gestern mehr offene Fragen als vorher allen bekannt waren.

Und wären alle bis zum Schluss geblieben, hätten sie alle auch genau das noch mal vor Augen geführt bekommen, als das Präsidium um die Chance kämpfte, dem Vorstand den Anteilsverkauf über die 24,9 Prozent hinaus zumindest als Notlösung offen zu halten. Denn mehr Mittel als Anteilsverkäufe und Fananleihen bietet der HSV momentan nicht. Und ja, auch ich hoffe, dass sich das ändert. Aber daran glauben werde ich erst, wenn der HSV (egal ob über das e.V.-Präsidium oder den AG-Vorstand) Lösungen bzw. Ergebnisse liefert.  Und das war gestern zweifellos nicht der Fall. Und obgleich jetzt viele sagen werden, ich wäre zu pessimistisch, behaupte ich, dass ich das Ganze noch sehr moderat formuliert und eingestuft habe.

Trotzdem hoffe ich, dass Marcell Jansen nicht nur Ideen hat, was passieren muss, sondern auch, wie es passieren muss. Er wird sein Amt als Präsident deutlich breiter fächern müssen als bisher angekündigt. Allein die sportliche Seite verstärkt zu kontrollieren und mitzugestalten wird diesem HSV nicht über den Berg helfen. Im Gegenteil: nichts ist subjektiver als die Einschätzung von Leistungsfähigkeit bei Profis. Nein, hierzu gehört deutlich mehr als die Expertise aus eigenen Profijahren. Hierzu gehört ein ganzes Konstrukt, das in sich stimmig ist und das so funktioniert, dass sich gute Fußballer schnell einbringen können. Und ich bin gespannt, wie das (demokratisch gewählte) Führungsgespann das in den nächsten Wochen und Monaten herstellen will/wird. „Ich weiß, worauf ich mich eingelassen habe und bin darauf vorbereitet“, sagte mir Jansen gestern, als die Veranstaltung zu Ende war. „Ich will helfen, dass es dem Verein möglichst bald besser geht. Und auf diesem Weg gibt es definitiv viel zu tun.“ Stimmt. Aber trotzdem, bzw. gerade deshalb ganz im Sinne des HSV:

Viel Erfolg, Marcell Jansen!

 

Morgen wird übrigens das erste Mal nach La Manga wieder in Hamburg trainiert. Am Nachmittag um 15.30 Uhr bittet Hannes Wolf, der gestern von Sportvorstand Ralf Becker vollmundig eine Jobgarantie ("Ich kann versprechen, dass Hannes Wolf auch in zwölf Monaten noch unser Trainer ist"), seine Mannen auf den Platz. Es wird übrigens öffentlich trainiert.

Bis morgen!

Scholle

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