Marcus Scholz

17. September 2019

Hätte ich nicht gewusst, dass der HSV gestern beim FC St. Pauli ein wichtiges Spiel verloren hatte, es wäre mir spätestens bei diesem Anblick klar geworden, Denn als die Mannschaft heute in der Mixed Zone des Volksparkstadion an uns Journalisten vorbeilief,  gab es nicht einen Spieler, der etwas anderes hätte vermuten lassen. Bis auf vereinzelte „Moin“-Grüße verzogen die Spieler keine Miene. Das Spiel war ihnen mächtig auf die Stimmung geschlagen - und sie hatten es sich in der Videoanalyse gerade noch einmal ansehen - und vom Trainerteam eine menge Kritik anhören müssen. „Viel Grund zum Feiern gab es ja auch nicht“, scherzte Trainer Dieter Hecking, als er auf die Stimmungslage seiner Spieler angesprochen wurde. Allerdings, so der Coach weiter, werde man das Spiel jetzt auch abhaken und zusehen, dass der komplette Blick nach vorn auf das nächste Spiel gerichtet würde. Immerhin warte mit dem FC Erzgebirge Aue - aktuell Fünfter mit elf Punkten - ein Tabellennachbar auf ihn und sein Team.

Dennoch, ganz ohne Rückblick kam Hecking heute nicht aus. Und dabei fand er auch viel Positives. „Wir müssen alles analysieren, es ist wichtig, dass wir es schnell wegbekommen. Ich fand auch, es war sportlich ein tolles Derby. Dazu haben beide Mannschaften beigetragen, dass wirklich der Sport im Vordergrund stand. Pauli mit einer sehr guten Leistung - und wir ab der 30. Minute. Und deshalb müssen wir darüber reden, was wir besser machen können - nicht erst ab der 30. Minute. Das waren ein paar Dinge, die nicht so umgesetzt worden sind, wie wir es erwartet hatten. Da hätten wir umstellen müssen, das ist uns nicht gelungen.“ Deshalb sei passiert, was nicht passieren sollte. „Vor dem 0:1 war es eine Fehlerkette. Das 0:2 darf uns nicht passieren“, sagt Hecking, der versucht ist, der Niederlage die Besonderheit zu nehmen.  „Die Derbyniederlage haben wir jetzt ein halbes Jahr im Rucksack. Erst dann können wir die Karten neu mischen das können wir nicht ändern. Da dürfen wir uns nicht zu lange ärgern. Wir werden den Spott ertragen, den übernehmen auch wir in der Führung. Wir sagen den Jungs: ‚Geht raus, zeigt Euch und akzeptiert die Niederlage‘. Wir müssen sie verarbeiten - und bestenfalls mit einem Sieg gegen Aue.“

Anstatt zu lange zu hadern, ging Hecking heute nur kurz auf die vermeintlichen Fehlentscheidungen ein. „Diamantakos hätte vom Platz fliegen müssen nach 35 Minuten.  Was können wir dafür, dass er für Trikotausziehen Gelb bekommt. Wenn man das Foul an Leibold sieht, ist das eine Gelbe Karte. Und wenn der Linienrichter auf der Höhe gewesen wäre, hätte er vielleicht gesehen, dass der Ball nicht im Aus war. Aber spielentscheidend war das alles nicht. Spielentscheidend war unser Verhalten in den ersten 30 Minuten - und das 2:0. Das darf so nicht passieren.“ Weshalb er als Trainer nicht umgestellt habe? Weil er ungehört geblieben ist. Sagt der HSV-Trainer selbst: „Wir wussten, dass Pauli mit dieser Mittelfeldkonstellation spielt. Mit Positionswechseln, wo Möller Daehli tief geht und Knoll mit Becker immer mal tauscht. Wir waren zu oft im 4-4-2 gegen den Ball unterwegs. Und dann haben Lukas und Sonny versucht, gegen vier Leute anzulaufen, das hat nicht funktioniert. Zwei, drei Minuten haben wir es gut gemacht - dann unverständlicherweise nicht mehr. Wir habe es von außen versucht zu korrigieren, sind da der nicht rangekommen. Da muss man auf ruhige Phase hoffen, um mal einen Spieler rauszuholen - aber diese Phase gab es nicht.“

 

Erst nach einer halben Stunde habe die Mannschaft von sich aus gemerkt, was falsch läuft. „Die Reaktion der Mannschaft war nach 30 Minuten so, wie wir es über 90 Minuten spielen wollen. Die letzten Minuten vielleicht mal ausgenommen, das war etwas wild. Da hätte St. Pauli den Sack zumachen müssen.“ Allerdings war Hecking auch heute noch davon überzeugt, dass seine Mannschaft das Spiel gewonnen hätte, wenn Hinterseer eine seiner Großchancen zum Ausgleich genutzt hätte. Dann wäre die zweite Luft des FC St. Pauli weggeblieben, die sie durch das 2:0 und die daraus resultierende Stimmung auf den Rängen für sich zu nutzen wusste. „Dann hätten stattdessen wir die zweite Luft bekommen und hinten raus mehr Körner gehabt“, so Hecking, der Hinterseers unglücklichen Auftritt so beschrieb: „Er hätte der Held werden können gestern. Vielleicht hat man ihm auch ein Tor geklaut - wer weiß. Aber die beste Antwort von ihm ist: Mund abputzen und weitermachen. Am besten gleich mit zwei Toren gegen Aue.“

Hinterseer hätte der Held des Derbys werden können

Und auch ich glaube, dass das Spiel gestern an Sekunden hing, in denen der HSV definitiv zu viele Fehler machte. Beim 0:1 beispielsweise überläuft Vagnoman gerade Narey, als sich dieser einen fahrlässigen Ballverlust erlaubt - und Fein zu einer Rettungsaktion zwingt. Kurz darauf standen Fein, Narey und Vagnoman nur dabei, als sich Möller Daehli in aller Seelenruhe den Ball zurechtlegen und flanken konnte. Der Rest ist bekannt. In der Mitte lässt Kittel (Hecking: „Kinsombi und Kittel waren längst nicht so im Spiel wie zuletzt. Das macht sich bemerkbar.“) Knoll ziehen, der köpft an den Pfosten und Diamantakos köpft den Abpraller vor van Drongelen ein. Und auch das 0:2 sei vorher angemahnt worden: „Der Freistoß war ähnlich wie gegen Greuther Fürth. Wir wussten um den Laufweg“, verriet Hecking heute, „Knoll hatte auch einen klaren Gegenspieler gehabt.“ Und wenn ich das richtig gesehen habe, dann war das der zweite von Hecking angesprochene, gestern leider auf dem Platz abwesend wirkende Spieler: David Kinsombi.

Dennoch bemühte sich Hecking heute ausdrücklich darum, die Niederlage realistisch einzusortieren. „Ich dreh’ nicht durch, wenn wir nach fünf Spielen 13 Punkte haben“, so Hecking, „und ich drehe nicht durch, wenn wir mal zwei, drei schlechte Spiele haben. Wir sind am Anfang eines Umbruches. Vielleicht war das auch eine Initialzündung, dass alle erkennen, dass wir gut sind, aber es nicht einfach ist.“ Er habe eine Reaktion auf dem Platz gesehen, die er gut fand und die Mannschaft habe ab der 30. Minute gezeigt, weshalb sie zurecht ganz oben stünde. Auch der viel kritisierte Rechtsverteidiger-Ersatz für Jan Gyamerah, Youngster Josh Vagnoman, gefiel Hecking: „Er hat auch die ersten 20 Minuten etwas sein Spiel gesucht. Und dann braucht er auch einen funktionierenden Narey vor sich - den hatte er in dem Spiel leider nicht. Khaled hat nicht so gut gespielt wie gegen Hannover. Und dann wird es auch für so einen jungen Spieler auch schwierig . Das muss man auch einem 18 Jahre jungen Spieler auch mal zugestehen.“ Ob Hecking das Projekt Vagnoman als gescheitert ansieht? Mitnichten. Der Trainer heute: „Aktuell würde ich dazu tendieren, ihn wieder spielen zu lassen.“ Klingt nach einem Plan.

 

Vor allem klingt alles bei Hecking unaufgeregt. Und das finde ich gut. Er zerschießt seine Mannschaft nicht, nimmt sie aber auch nicht aus der Pflicht. Vagnoman heute ist ein gutes Beispiel, wie man Spieler aufbauen kann. Aber vor allem der Umgang mit David Kinsombi zeigt mir, was Hecking vorhat. Er lässt den Ex-Kieler immer wieder spielen, weil er weiß, dass es sich auszahlen wird. Denn Fakt ist auch, dass Kinsombi noch immer nicht hundertprozentig fit ist. Trotzdem setzt Hecking auf ihn und gesteht ihm zu, sich über Spiele seine Wettkampfhärte zurückholen. Vor allem aber demonstriert der HSV-Trainer seinem Mittelfeldmann damit, dass er ihm vertraut. Und so, wie ich Kinsombi habe Fußball spielen sehen, wird sich das sportlich auf Sicht allemal auszahlen. Vor allem aber baut sich Hecking hier zu Kinsombi ein Vertrauensverhältnis auf, das dieser auf jeden Fall mit Leistungen zurückzahlen will. Denn völlig unabhängig von seiner bisherigen Leistung und dem Spiel am Millerntor behaupte ich, dass Kinsombi ein absoluter Leadertyp ist. Auf dem Platz, wenn er richtig fit ist. Drumherum ist er es schon jetzt.

Die Niederlage wiegt nicht schwerer als die guten Wochen davor

Ich muss zugeben, dass ich mir eine Derbyniederlage schlimmer ausgemalt hatte. Und damit möchte ich nicht schönreden, was nicht schön war. Denn dass sich der HSV in so einem emotionsgeladenen Spiel die ersten 30 Minuten versteckt und bis auf Adrian Fein sowie die beiden Innenverteidiger van Drongelen und Jung niemand, aber auch wirklich gar niemand Verantwortung übernehmen wollte, das fand ich alarmierend. Auch, wenn die folgenden 45 bis 50 Minuten deutlich besser waren. Zudem hat sich die Lösung Vagnoman/Narey nicht empfehlen können. Trotzdem bin ich nicht bereit, der Enttäuschung über dieser einen Niederlage im Derby - so schmerzhaft sie ist -, mehr Platz einzuräumen, als den ganzen Wochen zuvor. Im Gegenteil. Die Richtung stimmt trotz dieser zweifellos bösen, hässlichen Beule, die man gestern kassiert hat…

In diesem Sinne, morgen ist trainingsfrei. Kopf frei kriegen, Wunden lecken - und dann geht es wieder von vorn los. Für alle. Am Donnerstag geht es dann um zehn Uhr weiter - mit Auen im Blick.

 

Bis dahin!

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