Marcus Scholz

20. November 2017

Es ist halt immer eine Frage der Legende, also des Maßstabes. Das hat mir schon früher mein Erdkunde-Lehrer beigebracht. „Immer zuerst darauf achten, bevor Du etwas bewerten willst“, so Herr Bautsch damals gleich in der allerersten Stunde. Und dieser Satz hat sich bei mir ebenso eingeprägt wie einige Sätze meiner Eltern und Großeltern. Denn die Relation ist tatsächlich entscheidend. So auch in der Beurteilung von Leistungen wie in dem Spiel auf Schalke. Ich habe geschrieben, dass der HSV ein sehr ordentliches Spiel gemacht hat, spielerisch auf Augenhöhe war und sich selbst durch dumme Fehler um einen oder mehrere Punkte gebracht hat. In der Überschrift habe ich das Spiel „gut“ genannt – was es angesichts des Leistungsvermögens dieser Mannschaft in meinen Augen auch war.

Hintergrund für meine Beurteilung: Dass man beim Tabellenzweiten mithalten kann, sogar statistisch von Ballbesitz bis Passsicherheit nahezu überall gleichzuziehen vermochte und nur durch dumme Fehler verloren hat - das hätte ich vor zwei Monaten als unmöglich abgestritten, sofern nicht Schalke einen unterirdischen Tag erwischt. Aber den hatten sie gestern nicht. Zumindest sagt das Schalke-Trainer Tedesco selbst. Er sieht seine Schalker zwar noch besser, als ich sie gesehen habe. Aber zumindest sagt er deutlich, dass sein Team funktioniert hat: „Wir haben fast nix zugelassen. Wir wussten, dass die Hamburger stark über die Außen kommen und die Überzahlsituation auf den Flügeln suchen. Deshalb haben wir dort genug Personal gehabt, um auch gut zu verteidigen. Wir haben das Spiel gut kontrolliert und uns die Kompaktheit nicht nehmen lassen. Wir sind über den Sieg sehr glücklich.“

 

 

Insofern nehmen wir es doch einfach mal so, wie es ist: Der HSV hat für seine Verhältnisse ein sehr ordentliches Spiel gemacht - um nicht „gutes“ Spiel zu sagen. Auf jeden Fall war es spielerisch eine Steigerung – wenn auch nicht gut genug, um nötige Punkte auf Schalke mitzunehmen. „Man kann nicht erwarten, dass man auf Schalke gewinnt“, so Gisdol heute deutlich verschnupft (über so einiges, aber dazu gleich mehr), „wir haben uns selbst um die Punkte gebracht. Denn auf Schalke war mindestens einer drin.“ Stimmt. Und was bleibt? Der HSV spielt besser, als einige es erwartet haben. Aber es reicht eben noch nicht, um starke Gegner zu schlagen. Vor allem aber bleibt für mich die Erkenntnis, dass sehr viele HSV-Anhänger das Leistungsvermögen der Mannschaft deutlich stärker einschätzen, als ich.

Egal wie, sich zu verschätzen kennt man beim HSV nur zu gut. Und so verwundert es auch nicht, dass heute ist plötzlich ein Spieler DAS Gesprächsthema, der auf Schalke nicht mal dabei war. Wobei er natürlich genau deswegen das Thema ist: Julian Pollersbeck. „Er denkt, er habe es nicht nötig. Er ist zu bequem und hat sehr wenig Eigenantrieb. Julian fehlt es an Selbstkritik. Du musst ihn zu seinem Glück zwingen“, kritisierte ihn heute sein ehemaliger Torwarttrainer Gerry Ehrmann aus der Ferne. Und der ehemalige FCK-Keeper legte via Sport1 sogar noch einen drauf: „Er ist nicht grundlos dritter Torwart beim HSV, da kommt Hochmut vor dem Fall. Wenn Julian richtig hart trainiert, dann ist das alles in Ordnung, von der Körpergröße her und fußballerisch. Aber man muss ihm zwei Mal die Woche den Arsch aufreißen, weil er von sich aus nichts macht. Wenn man so verantwortungslos mit seinem Job umgeht, ist das traurig. Ich habe dafür kein Verständnis.“

Nun ist es kein Geheimnis, dass Pollersbeck in der Vorbereitung patzte und sich nicht aufzudrängen wusste. Ebenfalls kein Geheimnis ist, dass Pollersbeck im Training nicht beeindruckt. Er macht mit, fällt aber selten bis nie positiv auf. Das hatte ich in etlichen Blogs auch unter anderer Flagge schon geschrieben, und dazu stehe ich auch heute. Insofern teile ich auch die Meinung von Trainer Markus Gisdol, der heute sportliche Gründe als Entscheidungsgrundlage für die Degradierung Pollersbecks und der zeitgleichen Beförderung von Tom Mickel zum zweiten Keeper nannte. Zumal Mickel im Training laut ist, immer Vollgas gibt. Und das, obwohl ihm vor der Saison sehr deutlich gesagt wurde, dass er hier keine zu hohen Erwartungen haben soll, dass man aber seine Identifikation mit dem HSV, seine Loyalität und seine Zuverlässigkeit so schätze, dass er einen neuen Vertrag als dritter Keeper bekam. Jetzt hat sich sein unbändiger Einsatz gelohnt.

Andererseits steht der HSV nach dem im Sommer so hoch angepriesenen und vielfach verteidigten Einkauf des U21-Nationalkeepers nicht gut da. Rund vier Millionen Euro hat der FCK vom HSV für die Dienste des Torwarttalentes erhalten. Zu viel fand ich im Sommer und HSV-Sportchef Jens Todt verteidigte die Ausgaben als gute Investition. Und, nur, um das klarzustellen: So ein Verlauf war nicht vorherzusehen. Aber wie so oft im Tagesgeschäft Fußball entscheidet am Ende das Ergebnis: Und das stellt Pollersbeck und somit auch der Einkaufsabteilung des HSV mal wieder ein bitteres Zeugnis aus. Zumal Todt Gerüchte, die Ursache können im mitunter unprofessionellen Lebenswandel Pollersbecks liegen, als falsch aburteilt.

Ich selbst werde mich an den Gerüchten um Pollersbeck ganz bewusst nicht beteiligen. Zum einen, weil ich es nicht weiß. Zum anderen aber auch, weil ich weiß, dass es immer wieder auch eine gern genommene Ausrede für diejenigen ist, die diesen Spieler nicht in die Spur kriegen bzw. bekommen haben sowie für die, die sportlich vielleicht falsch geurteilt haben. Und ich weiß, dass ein Gläschen Wein – selbst zwei, drei oder auch vier Gläser – am Ende nicht für monatelange Minusleistungen verantwortlich sind. Solange hier keine körperlichen Beeinträchtigungen zu verzeichnen sind – und die könnten die Verantwortlichen mit ihren Untersuchungen und Messwerten jederzeit nachweisen -, ist das auch nichts Verwerfliches.

Früher war das „Um die Häuser ziehen“ der Spieler sogar mit den Trainern abgesprochen und Usus – und trotzdem waren diese Spieler leistungsfähig. Nein, ich behaupte, bei Pollersbeck bestehen andere, tiefergehende Ursachen. Und ich bin auch weit davon entfernt, diese allein beim Spieler zu suchen. Denn dass es für einen jungen, damals noch 22-jährigen Mann aus Kaiserslautern nach Hamburg kommend zunächst eine Umstellung ist, das war klar. Zumal mit den Vorschusslorbeeren eines U21-Titels samt Auszeichnung zum besten Keeper des Turniers auch mit einer hohen Erwartungshaltung an ihn verbunden war. Insofern muss der HSV hier den Spieler leiten. Und damit meine ich nicht allein, ihn zu trainieren und zu ermahnen, wenn es nicht gut läuft. Ich bin da eher beim Torwarttrainer bzw. dem Trainerteam samt Sportchef. Sie müssen dem Spieler klarmachen, wie es funktioniert. Und zwar, bis es funktioniert. Das kann sogar so weit gehen, dass man es mit Ehrmann hält, der heute sagte: „Ich habe gehört, dass er in Hamburg um die Häuser ziehen soll. Wenn das bei mir passiert wäre, dann hätte er am nächsten Tag so trainiert, dass er dafür zu müde gewesen wäre.“ Alte Schule eben – und die muss nicht immer falsch sein...

In diesem Sinne, bis morgen. Da ist übrigens trainingsfrei. Auch für Pollersbeck.

Scholle

 

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