Simon Rösel

30. Oktober 2020

Letzte Saison war meine Einstellung vor dem Derby milde. Eingelullt von Dieter Heckings berechenbarem Ballbesitzfußball. Nach der ersten Derby-Niederlage dachte ich noch: Das ist zwar eine Delle. Aber wenn der HSV weiter souverän spielt, klappt der Aufstieg in jedem Fall. Ich dachte öfters an einen St. Pauli-Fan, der damals vor der Kneipe zu mir sinngemäß sagte: „Eure Spieler sind zwar super, aber das Derby ist ihnen egal. Die sind nächste Saison eh wieder weg. Ihr steigt trotzdem auf.“ Er bezog sich vor allem auf Adrian Fein, der zu dem Zeitpunkt der Dreh- und Angelpunkt im Hamburger Aufbauspiel war. Dieses Jahr ist die Situation anders.

Eine ähnliche Vorgeschichte

Wobei als erstes die Gemeinsamkeiten herausstechen. Wieder findet das Derby am 6. Spieltag statt. Wieder geht der HSV mit einer Siegesserie im Rücken ins Derby. Wobei es letzte Saison noch krasser war. Da hat der HSV am Spieltag vorher 3:0 gegen Erstligaabsteiger Hannover 96 gewonnen. Der FC St. Pauli hatte vorher 0:5 gegen Jahn Regensburg verloren. Die Angelegenheit schien klar. Doch St. Pauli hat als erster Gegner die Schwächen von Heckings HSV-Mannschaft offengelegt. Sie haben leidenschaftlich gepresst und die HSV-Schwäche bei Standardsituationen entblößt. Mit dieser Taktik – wenn sie denn vom Gegner gut ausgeführt wurde – sollte der HSV bis zum Saisonende nicht mehr zurecht kommen. Und diese Saison ging auch für beide Teams ähnlich los. Mit einem peinlichen Ausscheiden im Pokal. Beide Fanlager dachten sich schon: „Typisch Hamburg. Wir können alles. Außer Fußball.“

Doch es sind auch einige Vorzeichen anders. Unter Daniel Thioune ist der HSV taktisch plötzlich flexibel. Etwas, dass es beim HSV schon ganz lange nicht mehr gab. Dazu wirken die Spieler hungriger und deutlich stabiler im Umgang mit Rückschlägen. Wie nach der Pokalniederlage gegen Dresden. Wie bei den individuellen Fehlern gegen Paderborn. Wie bei der Unterzahl gegen Fürth. Wie beim Rückstand gegen Würzburg. Das Spiel gegen Dresden sah noch wie eine unheilvolle Fortsetzung der letzten Saison aus. Doch danach hat der HSV jede Hürde auf die ein oder andere Art übersprungen. Im FC St. Pauli Podcast MillernTon (millernton.de) sprach Host Yannick Pohl (auf Twitter mit @yannickpohl) mit Tanja Hufschmidt (auf Twitter mit https://twitter.com/fschmidt77) vom HSV-Talk (https://meinsportpodcast.de/hsvtalk/) und FRÜF (Frauen reden über Fußball). Er sagte, dass der HSV auch nicht das schwerste Auftaktprogramm gehabt habe. Ich habe bei ihm dazu nochmal nachgefragt und er schrieb mir: „Ich finde nach wie vor, dass ihr mit schwächelnden Düsseldorfern, den durchreisenden Paderbornern, instabilen Fürthern, meinetwegen schwer einzuschätzenden Erzgebirglern und einem Aufsteiger auf dem letzten Platz ein durchaus sehr machbares Auftaktprogramm hattet. Aber klar, auch ihr werdet letztlich an der Partie am Freitag gemessen werden.“ Ich denke, diese Sicht von anderen Fans auf den HSV ist vielleicht ganz gut, damit wir alle nicht zu euphorisch werden.

In diesem Spiel ist der HSV Außenseiter

Im Fußball wird viel mit Floskeln um sich geworfen. Doch gerade Klischees liegt oft eine Wahrheit zugrunde, die einfach nur durch ständige Wiederholung abgenutzt wurde. Nur weil jeder zweite Trainer heute davon spricht, dass seine Spieler gierig ins Spiel gehen müssen, wird es nicht weniger wahr. Und auch als Tabellenführer mit fünf gewonnen Spielen muss der HSV gierig in jedes Spiel gehen. Erst recht in dieses. Mein Vorschlag wäre es, das Pferd einmal von hinten aufzuzäumen. Bis auf das 4:0 im Frühjahr 2019 sah der HSV in keinem der letzten Derbys gut aus. Noch einmal kurz die Bilanz der letzten sechs Spiele: 1 Sieg. 2 Unentschieden. 3 Niederlagen. Eine Niederlage stammt noch aus 2011. Die zwei anderen aus der letzten Saison. Aus St. Pauli-Sicht erzählt sich die Geschichte natürlich gut. Der kleine Stadtteilverein, der es immer wieder schafft den großen HSV zu ärgern. Doch die Bilanz spricht eindeutig gegen den HSV und die Derbys sind eben eine eigene Zählweise gegenüber der die letzten Ligaspiele in den Hintergrund rücken. Ich würde sogar sagen: In diesem Spiel ist der HSV Außenseiter. Denn, wenn ein St. Pauli Trainer es schafft, seine Spieler vor dem Derby besonders heiß zu machen und diese Motivation dann noch mit seiner Taktik in die richtigen Bahnen lenkt, hat sein Team gegenüber einem behäbigen Favoriten eine deutlich erhöhte Siegwahrscheinlichkeit. Und der aktuelle St. Pauli Trainer Timo Schultz, der als Spieler und Jugendtrainer schon seit 2005 im Verein ist, hat das Derby wohl so sehr verinnerlicht wie sonst kein Spieler oder Verantwortlicher – auf beiden Seiten. Natürlich sagen alle, die beim HSV gefragt werden, wie wichtig das Derby für sie sei. Trotzdem liegen die Pluspunkte für Derby-Erfahrung und Selbstbewusstsein eindeutig auf Seiten der Braun-Weißen. Ich meine das vor diesem Spiel genauso wie ich es in der Überschrift auch geschrieben hab. Diesmal ist der HSV der Außenseiter. Alle mentalen Pluspunkte liegen auf Seiten des FC St. Pauli.

Und trotzdem muss der HSV das Spiel gewinnen. Genauso wie er jedes andere Spiel in dieser Liga gewinnen muss. Das ist der Anspruch, den Kader und Etat unmissverständlich formulieren. Und die Mannschaft muss in der dritten Zweitligasaison endlich lernen mit diesem Druck richtig umzugehen. Dieter Hecking hat nach außen oft versucht, den Druck von der Mannschaft zu nehmen. Doch in der Rückrunde ist sie trotzdem zusammengebrochen. Das Spiel gegen St. Pauli wird zeigen, wie viel Druck das Team im Moment aushält. Denn obwohl die Siegesserie das Selbstbewusstsein stärkt, wird der Druck mit jedem Spiel und erst recht mit jeder Niederlage weiter zunehmen.

Eines der psychologischen Mittel, mit dem der Druck umgelenkt werden soll, ist die Vermeidung des Worts „Aufstieg“ als Zielvorgabe. Bisher funktioniert das gut, aber wie gesagt: Der Druck steigt immer weiter. Und bisher hat das Team noch nicht den Druck mehrerer Niederlagen hintereinander gespürt.

 

„Es fehlt das Kribbeln“

Doch gerade so ein Derby hat immer zwei Seiten von denen man das Spiel beurteilen kann. Deshalb hab ich Yannick vom MillernTon auch gebeten, mir noch eine etwas längere Einschätzung zu geben. Vor allem die Fansicht aus dem St. Pauli Umfeld hat mich dabei interessiert. Ich gebe sie euch einmal ungekürzt wieder. Yannick sagte:

„Nach dem desolaten Debüt im DFB-Pokal, dem wie gewohnt Zynismus, aber auch Ernüchterung folgte, haben die ersten Spiele des FC St. Pauli gezeigt, dass ein Umbruch nicht nur personell, sondern auch auf dem Platz stattgefunden hat. Die aktuelle Mannschaft zeigt vieles, was zuletzt vermisst wurde: Kampfgeist, Moral, einen mutigen Zug nach vorne und schnelles Zusammenspiel. Natürlich passieren dabei auch Fehler, aber sowohl gegen Bochum als auch gegen Darmstadt kamen die Boys in Brown zurück und holten einen Punkt. Das gefällt. Trainer Timo Schultz wird aber sicherlich sehr stark am Auftritt am Freitag gemessen werden, auch wenn er durch seine Stellung in der Fanszene einen gewissen Mehrkredit genießt als manch Vorgänger.

Der Partie wird meiner Einschätzung nach aber bei weitem nicht so stark entgegen gefiebert wie noch den vergangenen. Wenig verwunderlich unter den gegebenen Umständen. Ein Derby (fast) ohne Fans ist eben nicht das, weshalb man sich auf diese Begegnung freut. Natürlich wollen wir die Stadtmeisterschaft verteidigen, klar. Und irgendwie wäre es aus braun-weisser Sicht auch wieder eine wunderbare Geschichte, dass ausgerechnet wir die aktuelle Siegesserie des Rivalen aus der Vorstadt durchbrechen. Aber wie gesagt, irgendwie fehlt das Kribbeln. Trotzdem werde ich das Spiel gebannt verfolgen und natürlich im MillernTon mit Tanja vom HSVTalk drüber sprechen.“

 

Wie flexibel ist der HSV tatsächlich?

Natürlich versuche ich mir auch einen Reim auf die Taktik zu machen. Denn bei aller Mentalität wird sie genauso spielentscheidend sein. Im Vergleich zum Würzburg-Spiel steht Jeremy Dudziak nach seiner Schulterverleztung wieder zur Verfügung. Außerdem ist Toni Leistner nach seiner Sperre wieder einsatzberechtigt. Ich vermute, dass beide auch von Anfang spielen werden. Kittels Leistungen waren bisher eher durchwachsen und Toni Leistner rückt wohl für Gideon Jung in die Dreierkette. Wenn es denn wieder eine Dreierkette geben wird. Oder was auch immer das für ein Hybridwesen ist, das Daniel Thioune dort erschaffen hat. Denn besonders die Rolle von Jan Gyamerah war in den letzten beiden Spielen super spannend. Gerade nachdem er gegen Würzburg in der zweiten Halbzeit zeitweise den rechten Innenverteidiger in der Dreierkette gegeben hat, aber auch oft als rechter Außenverteidiger nach vorne gegangen ist. Die entscheidende Frage ist hier, ob er hier wieder in dieser wechselnden Rolle spielt oder auf außen Khaled Narey ersetzt. Oder ob Josha Vagnoman seinen Platz auf außen einnimmt. Oder eben Narey selbst, der hier seit Paderborn immer wieder gute Leistungen gezeigt hat und dem HSV zusätzlich Torgefahr beschert.

Ihr seht schon es gibt viele potenzielle Szenarien. Interessant ist zu dem die Frage ob Amadou Onana wieder in die Startelf rückt. Ich vermute viele im Blog hier würden das befürworten und auch ich fand seine Leistung besonders nach der Einwechslung gegen Duisburg sehr überzeugend. Seine Dynamik und seine Spielverlagerungen haben sich gut mit der ruhigen Art von Aaron Hunt ergänzt und entlasten Hunt etwas dabei, das Spiel von ganz hinten aufzubauen. Allerdings hat er nach dem Spiel auch zwei Tage belastungsgesteuert mit dem Training pausiert.

 

Meine Vermutung für die Aufstellung lautet:

Ulreich - Heyer / Ambrosius / Leistner - Leibold / Hunt / Onana / Gyamerah – Dudziak – Wintzheimer / Terodde

 

Vor allem hat es mir lange nicht mehr so viel Freude gemacht, über die Aufstellung des HSV zu spekulieren. Und das ist erstmal ein gutes Zeichen. Ich wünsche uns allen ein erfolgreiches Derby. Vielleicht kann der Fußball uns in dem Moment helfen, die Dynamik der Pandemie für einen Moment zu vergessen. Ich würde es mir wünschen. Bleibt gesund. Nur der HSV!

 

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