Marcus Scholz

9. September 2019

Es ist so ein wenig die Ruhe vor dem Sturm. In sieben Tagen trifft der HSV am Millerntor auf den FC St. Pauli. Und nachdem heute Laktattests anstanden, geht es morgen wieder auf den Trainingsplatz. Zweimal wird öffentlich trainiert. Es sind die ersten beiden von insgesamt sechs Einheiten bis zum Stadtderby. Zum Vergleich: Der FC St. Pauli trainiert achtmal - wobei die zwei Einheiten, die der FC mehr trainiert, heute stattfanden, wo der HSV seine Laktattests machte. Insofern: Kein Grund zur Sorge für diejenigen, die mehr Training auch immer mit besserer Leistung verbinden. Im Gegenteil: Beide Trainer geben ihrer Mannschaft sogar am Donnerstag noch einen freien Tag, da das Spiel erst am Montag ist.

Viel mehr Grund zur Sorge besteht ohnehin für die Zeit danach. Denn die letzten beiden Derbysieger (St. Pauli 2011) und der HSV im März kollabierten jeweils im Anschluss an die Derbysiege. Der FC St. Pauli stieg damals in die Zweite Liga ab - der HSV gab seinerseits die Tabellenführung noch ab und rutschte am Ende sogar aus den Aufstiegsrängen der Zweiten Liga.

Für den damaligen HSV-Trainer Hannes Wolf war es so eine Art „Bruchstelle der Saison“, wie er es nannte. Ralf Becker, der damalige Sportvorstand, sah vor allem die nächste Ligapartie als Bruchstelle an, als man gegen Darmstadt 98 früh 2:0 führte und alle dachten, dieses Spiel würde der Gegner überrannt. Ich selbst erinnere mich daran, zu meinem Sitznachbarn auf der Pressetribüne gesagt zu haben, dass das gut und gern ein Kantersieg mit „5:0 und höher“ werden könne. Allein - es wurde ein 2:3. Es war der Anfang vom Ende aller Aufstiegsträume des HSV. Und auch heute wird wieder darüber diskutiert, ob es falsch war, der Mannschaft im Anschluss an den Derbysieg zwei Tage frei gegeben zu haben. Es wird diskutiert, ob es falsch war, den Derbysieg in einer rauschenden Partynacht zu feiern. Und obwohl der Nichtaufstieg all denen Recht gibt, die das bejahen - sage ich nein. Okay, die freien Tage hätte ich als Trainer weggelassen. Ich hätte schnellstmöglich versucht, die Mannschaft wieder in den Alltag zurückzuholen und aufs Wesentliche zu fokussieren. Die Feier danach indes hätte ich nicht weggelassen.

Zumal die damalige Mannschaft eh schon viel zu wenig Gemeinsamkeiten hatte. So ein teambildendes Erlebnis wie die gemeinsame Anspannung vor dem Spiel, der Derbysieg an sich und die Feier danach - das hätte tatsächlich funktionieren können. DAS hätte Selbstvertrauen geben können  und zusammenschweißen können. Es hätte die bis dahin fehlende Souveränität hervorholen und den Glauben an die eigene Stärke festigen können - tat es aber nicht. Wobei man an dieser Stelle auch mal mit der Mär aufräumen muss, dass nach dem Derbysieg die ganze Nacht im Kollektiv durchgefeiert wurde. Denn es waren zwar alle eingeladen - es blieb am Ende aber nur ein kleiner Kern übrig (die Rede ist von sieben Spielern), die noch länger feierten.

Insofern: An zu viel Feiern lag es nicht, eher am Gegenteil. Selbst an dem Abend schaffte es die Mannschaft nicht, mal bedingungslos zusammenzuhalten. Obwohl sie wussten, dass sie die kommenden zwei Tage zum regenerieren hatten, hatten sie trotz des durchaus triftigen Grundes mit dem Derbysieg keinen Spaß an einem gemeinsamen Abend. Bezeichnend irgendwie.

Wir werden euch in den nächsten Tagen ordentlich einstimmen. Aber vor allem ihr seid jetzt gefragt! Schickt uns eure Derby-Momente, Rituale und Geschichten per PM oder E-Mail an kontakt@rautenperle.com. Mehr im Video:

Dass der HSV letztlich nicht aufstieg, mag in der Rückbetrachtung das verlorene Darmstadtspiel am besten wiederspiegeln. Allerdings glaube ich, dass es ein langer, schleichender Prozess war, der schon zuvor losgetreten worden war. Was ich meine? Ganz einfach: In der Mannschaft spielten zu viele Spieler, die ihre Zweitligazugehörigkeit als Unfall ansahen und glaubten, allein qualitativ schon auf sicher wieder hochzukommen. Ein Lasogga, ein Holtby, ein Santos, ein Hunt und noch einige andere sahen die Zweite Liga als notwendiges Übel an - und hatten dadurch Probleme, sich selbst immer wieder auf 100 Prozent hochzufahren. Dass das bei so einem Stadtderby mit dem ganzen Theater drumherum anders ist - logisch. So ein Derby ist für jeden Fußballer ein Highlight. Ein Spiel gegen Darmstadt 98 indes war es damals hingegen nicht.

Und genau diese Einstellung hat HSV-Sportvorstand Jonas Boldt zusammen mit seinen Kaderplanern und Trainern inzwischen komplett gedreht. Man hat sich Spieler geholt, die „Zweite Liga können“, wie es so oft heißt. Hinterseer, Kittel, Kinsombi und Co. - sie alle gehörten in der abgelaufenen Saison zu den Topspielern der Zweiten Liga und haben das gemeinsame Ziel, irgendwann Erste Liga zu spielen. Sie nehmen die Zweite Liga ernst und erachten sich selbst nicht als zu gut dafür. Allein das festigt sie schon und sorgt dafür, dass wirklich jedes Spiel - ob in Aue, Sandhausen oder im Stadtderby - sehr ernst genommen wird. Hinzu kommt der vielleicht wesentlichste Faktor: Der Trainer. Denn ein Hannes Wolf war noch dabei, sich einen Namen zu machen und auf Profiebene Erfahrung zu sammeln - der aktuelle HSV-Trainer Dieter Hecking indes verfügt über wenig mehr als eben diesen überragenden Erfahrungsschatz.

Ergo: Die Spieler haben naturgemäß mehr Vertrauen in die Entscheidungen des Trainers, der wahrscheinlich alle erdenklichen Situationen schon mindestens einmal erlebt und bestenfalls schon mal gemeistert  hat. Dafür kann ein Hannes Wolf nicht allzu viel - aber das ist in solchen Situationen, wie sie der HSV mit dem Derbysieg und dem nachfolgenden 2:3 gegen Darmstadt erlebt hat entscheidend. Erfahrung kann man nicht lernen. Und so eindeutig ich davon überzeugt bin, dass ein Hannes Wolf diese Erfahrungen ebenso wie ein Christian Titz machen und später ein richtig guter Trainer werden wird, so wichtig war die Entscheidung der HSV-Verantwortlichen, in dieser Saison auf einen Routinier wie Hecking zu setzen. Denn die Mannschaft folgt ihm. Seit der Jatta-Geschichte sogar noch einmal mehr und noch einmal vertrauensvoller als eh schon.

Fazit: Der HSV ist in diesem Jahr sportlich besser, mental stärker (was sich durchaus gegenseitig bedingt) und verfügt über einen Trainer, der eine Souveränität ausstrahlt, die abfärbt. Ich glaube, dass die aktuelle Führung genau die Fehler, die sich mit und nach dem Derby am deutlichsten offenbarten, abgestellt und komplett andere Voraussetzung geschaffen hat. Und ich behaupte, dass die Mannschaft nach dem Spiel im Falle des Sieges bis tief in die Nacht feiern und anschließend sogar zwei Tage frei bekommen könnte, ohne dadurch schwächer zu werden.  Wobei das auch leicht zu sagen ist. Denn eines ist mal ganz sicher: Hecking würde selbst nach einem 10:0-Derbysieg nicht euphorisch werden. Und: Zwei freie Tage wird es bei ihm nach dem Spiel ganz sicher eh nicht geben.

Stattdessen stehen morgen erst einmal zwei Einheiten am Volkspark an. Um 10 und um 15.30 Uhr wird öffentlich trainiert. Mein neuer Copilot Christian und ich werden dann natürlich vor Ort sein und Euch am Abend berichten. Zuvor werde ich Euch aber selbstverständlich mit dem MorningCall um 7.30 Uhr erst einmal über alles informieren, was dort so über den HSV gesagt und geschrieben wird. Bis dahin!

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