Marcus Scholz

19. November 2019

Ich muss sagen, ich war wirklich überrascht. Bei der Torabschlussübung heute sollten die Innenverteidiger lange Pässe über die durch Plastikmännchen simulierte gegnerische Abwehr in den Lauf des einrückenden Angreifers spielen - und Timo Letschert zauberte einen schönen Pass nach dem anderen aus dem Fuß. Der Spieler, der einen Großteil seiner Daseinsberechtigung aus seiner robusten Art und Körperlichkeit auf dem Platz zieht, fiel mir mit Zuckerpässen auf - und das ausgerechnet in dem Moment, indem er eh schon für Diskussionen sorgt. Denn nicht wenige glauben, dass es Zeit wäre, den HSV-Verteidiger, der zuletzt in Kiel nach seiner Einwechslung traf, von Beginn an zu bringen. Die Frage ist nur: für wen? Und diese Frage wird sich nicht so schnell klären, sondern sicher erst recht kurzfristig. Bis morgen ist Rick van Drongelen noch unterwegs. erst dann wird der Vizekapitän wieder ins Mannschaftstraining beim HSV einsteigen können.

Fakt ist, dass van Drongelen nach starkem Saisonbeginn, dem kurzen Tief im Derby und einer umso stärkeren Reaktion im Spiel gegen Aue zuletzt schwächelte. Er wirkte, wie einige andere auch, immer ehrgeizig und hochmotiviert - aber eben auch zunehmend unsicher. Fast so, als wäre er ein wenig überspielt. Oder zumindest so, als würde er mit der Verantwortung, die er seit Saisonbeginn auf sich nimmt nimmt, gerade ein wenig überlastet sein. Und das wiederum ist mehr als nachvollziehbar. Dass Trainer Dieter Hecking vor drei Wochen andeutete, auch dem bis dahin nonstop auf dem Platz gewesenen stellvertretenden Mannschaftskapitän auf die Bank setzen zu wollen, um ihm eine Pause zu gönnen, es passt ein wenig ins Bild. Denn offenbar hatte Hecking die Zeichen der Zeit schon deutlich früher erkannt. Alles das spricht dafür, dass man van Drongelen wohl einen Gefallen täte, wenn man ihm eine Pause gönnte.

Van Drongelen könnte eine Pause gebrauche. Oder?

Und trotzdem ist die Angelegenheit für mich nicht ansatzweise  so klar wie für einige andere hier. Ich würde van Drongelen nicht einfach so rausnehmen. Denn Spielertypen wie der Niederländer sind ebenso kompromisslos auf dem Platz wie drumherum anspruchsvoll. Sie gehen voll in ihrer Rolle als Führungsspieler auf und gestehen sich dabei selbst keine Pausen, schon gar keine Schwächen, ein. Nicht, weil sie dumm oder arrogant sind. Auch van Drongelen glaubt nicht, dass er unfehlbar ist. Vielmehr ist es eine widersprüchliche Mischung aus dem unbändigem Willen, dem HSV zu helfen und der Bereitschaft, sehr selbstkritisch zu werden. Soll heißen: Er selbst bekommt sehr wohl mit, dass es gerade nicht so läuft, wie sonst. Trotzdem wäre es für ihn ein Zeichen von Schwäche, wenn er jetzt von sich aus um eine Pause bitten würde. Er will alles wiedergutmachen, was er zuletzt nicht so gut gelöst hat. Dennoch, wenn Trainer Dieter Hecking zu ihm käme und eine Pause andeuten würde, van Drongelen wäre wahrscheinlich der Letzte, der sich beschwert. Dennoch: Gut gemeint ist eben nicht immer auch gut gemacht.

Von daher muss Trainer Hecking diese Woche in den wenigen Trainingseinheiten bis zum Heimspiel gegen Dresden ganz genau hinschauen, wer für die Innenverteidigung am besten geeignet ist. Ein frischer Letschert, oder doch van Drongelen? Dass es Ewerton werden kann, ist nahezu ausgeschlossen. Pech für den Brasilianer: Das Regionalligaspiel der U21 bei Hannover 96 II wurde abgesagt. Aus der geplanten Spielpraxis für den bislang noch einsatzlosen Innenverteidigers wird zunächst nichts. Aber die Personalie van Drongelen ist nicht die einzige, die bis Sonnabend spannend bleibt. Martin Harniks und Aaron Hunts Rückkehr scheinen sehr wahrscheinlich. Beide trainieren derzeit ohne Probleme voll mit. Nach dem Ausfall vom rotgesperrten Bakery Jatta erwarten daher alle, dass Harnik wieder auf die rechte Außenbahn geht. Auf der linken Seite könnte dann Kittel angreifen, während Hunt ins Zentrum rückt. Oder lässt Hecking das Dreieck Fein/Kinsombi/Dudziak weiter spielen und Hunt zunächst noch einmal auf der Bank? Schwer zu sagen.

Wobei der bislang stärkste Hamburger, Adrian Fein, das Schicksal von van Drongelen teilt. Auch der Leihspieler vom FC Bayern wirkte zuletzt etwas überspielt. „Aus Leistungsgründen“, so die Antwort von Hecking auf die Frage, weshalb Fein beim U21-Länderspiel vor ein paar Tagen frühzeitig ausgewechselt wurde. „Er hat mir selbst gesagt, dass er davon ausgeht, dass seine Auswechslung leistungsbedingt war.“ Mit anderen Worten: Ausgerechnet zwei der drei (Leibold würde ich hier zwingend mit reinrechnen) wohl verlässlichsten Spieler könnten offenbar eine Pause gut gebrauchen. Problem dabei: Nimmt Hecking gleich beide heraus, baut er (zumal Jatta ersetzt werden muss) zu viel auf zu entscheidenden Positionen um, glaube ich. Er muss daher ganz genau abwägen, was richtig ist.

Die neue Stabilität kommt vom Team um das Team

Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass der HSV-Trainer hier schon eine Lösung im Kopf hat - womit ich zum letzten Teil unseres Zwischenzeugnisses komme: Dem Team ums Team. Anfangen chronologisch mit Ralf Becker, der auf seinen letzten Metern noch sehr viel Gutes bewirken konnte. Ich würde sogar behaupten, dass er gerade da am besten war, wo sein Abschied intern schon beschlossen war. Er holte die ersten Spieler (Dudziak, Gayamerah, Kinsombi, Hinterseer, Leibold) und plante den Kader in seiner Struktur. Er holte zudem mit Trainer Dieter Hecking den Mann, der als einziger hier noch mehr gelobt wird als alle Spieler. Für seine Kaderplanungen für diese Saison hätte ich Becker so tatsächlich eine 1 gegeben. Addiere ich aber die Vorsaison dazu, kann es aber keine gute Gesamtnote mehr sein.

Anders gestaltet es sich bei Sportvorstand Jonas Boldt. Der Zugang aus Leverkusen hat bislang vieles richtig gemacht. Wirklich als Fehler hat sich noch keine Entscheidung herausgestellt. Da aber gerade in seinem Bereich viele Entscheidungen schon getroffen waren, bevor er angefangen hat, würde ich mir hier gern etwas Zeit erbitten, bevor ich eine Note ausspreche. Er hat die begonnene Arbeit mit schlauen Transfers geschickt fortgeführt. Zudem behaupte ich, dass er im Umgang mit der Mannschaft, seinem Vorstandskollegen und im Auftritt nach außen schon jetzt ein sehr gutes Zeugnis verdient hätte. Allein der Umgang mit dem Fall Bakery Jatta zeugte von einer loyalen Klarheit und Weitsicht, wie man sie in Hamburg lange nicht erlebt hat.

Boldt sowie Hecking und das Trainerteam sind Lichtblicke

Hinzu kommt, dass Boldt mit seiner Auffassung, weiter bedingungslos hinter Jatta zu stehen und ihn spielen zu lassen, intern auch ein paar kleinere Widerstände aus dem Weg räumen musste. Er schaffte es. Auch, weil er im Trainerteam ausschließlich Verbündete fand, was letztlich dazu führte, dass der HSV bundesweit verloren gegangene Sympathiewerte zurückgewann. Da man zudem fußballerisch zu überzeugen wusste und weiter auf einem sehr guten Weg ist, wäre alles andere als „sehr gut“ aktuell nicht zu vertreten.

Selbiges gilt für das Trainerteam des HSV, das einen sehr ausgewogenen, homogenen und strukturierten Eindruck hinterlässt. Auf der einen Seite der Führungstyp Hecking mit seinem loyalen Dauer-Cotrainer Dirk Bremser. Auf der anderen Seite sein sehr junges Team bestehende aus dem modern denkenden Tobias Schweinsteiger sowie dem Analystenteam rund um Alexander Hahn. Zusammen haben sie geschafft, was ihre Vorgänger in der Vorsaison nicht schafften: Sie dominieren die Gegner zumeist und erspielen sich nicht nur Chancen, sondern sie treffen auch. Nicht immer genug. Aber obgleich der HSV vor genau einem Jahr einen Punkt mehr auf dem Konto hatte und einen Tabellenplatz weiter oben stand, behaupte ich, dass der HSV von heute deutlich stabiler ist als der von vor einem Jahr.

Und das wiederum hängt ganz maßgeblich mit dem autoritären, souveränen Auftreten von Hecking zusammen. Daher gibt es für das gesamte Trainerteam die Gesamtnote: 1-. Und das Minus auch nur deshalb, weil man auswärts einfach noch zu viel liegen lässt. In den letzten Auswärtsspielen, ob in Regensburg, gegen Wiesbaden oder in Kiel hatte der HSV immer die Möglichkeiten, um die Spiele für sich zu entscheiden. Das allein ist an schon eine sehr gesunde, und zunächst einmal ausschließlich positive Basis. Und aktuell ärgert man sich nach Spielen wiederkehrend über vergebene Chancen, während man sich vor einem Jahr über knappe Siege freute. Damals allerdings immer in dem Wissen (oder zumindest mit großen Zweifeln ausgestattet), dass schon kleine Rückschläge das damals fragile HSV-Gebilde zum Einsturz bringen konnten. „Aber souverän war es nicht“, hieß es vor einem Jahr. Heute ist die erste Reaktion nach unbefriedigenden Spielen Optimismus. Man vertraut diesem HSV und setzt auf langfristigen Erfolg.

Weil diese Souveränität authentisch wirkt. Dank Hecking.

In diesem Sinne, ab sofort geht es nur noch um das Spiel am Sonnabend gegen Dynamo Dresden. Versprochen. Morgen um 15.30 Uhr geht es auf dem Trainingsplatz weiter. Ich melde mich aber selbstverständlich vorher schon um 7.30 Uhr mit dem MorningCall bei Euch und wünsche Euch bis dahin einen richtig schönen Abend mit einem hoffentlich erfreulichen Länderspiel der Deutschen Nationalmannschaft. Bis morgen!

Scholle

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