Raute_im_Herzen

30. Juni 2020

Wenn man wie ich, Mitte der 70er Jahre geboren, in einer kleinen Großstadt oder großen Kleinstadt in der Mitte Deutschlands aufwächst, dann hängt man als Kind sein Fußball-Herz nicht nur an den lokalen Club. Denn man braucht darüber hinaus ja noch einen Bundesliga-Verein. In meinem Fall war das der HSV. Das hatte familiäre Gründe und beschäftigt mich bis heute. Spoiler-Alarm: Nicht nur positiv.

„Erzähl noch mal von Uwe“, bitte ich meine Omi, die aus Hamburg zu Besuch gekommen ist.

Sie ist neben meiner Mutter die einzige aus der Familie, die sich außer mir überhaupt für Fußball interessiert. Und bei ihr basiert dieses Interesse auf der bedingungslosen Liebe zu Uwe Seeler. Und so erzählt sie ihrem achtjährigen Enkel zum Hundertsten Mal die Geschichte, wie Uwe und die Mannschaft 1960 nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft von Zehntausenden völlig euphorisierten Hamburgern am Dammtorbahnhof empfangen wurden und bei den Ehrenrunden von noch mehr Fans am Rothenbaum-Sportplatz gefeiert wurden.

„Der Hamburger SV musst du wissen“, sagte sie. „Ist ein großer Verein. Und es gibt keinen größeren Spieler als Uwe Seeler“.

So wurde ich also in der Provinz erzogen, von einer Hamburger Mutter und Großmutter. Mit dem sicheren Gefühl, etwas Größeres als den HSV könne es gar nicht geben.

Und es gab ja auch zu dieser Zeit überhaupt keinen Grund, daran zu zweifeln: Bei den Meisterschaften 1982 und 1983 war ich acht und neun Jahre alt. Beim großen Triumph in Athen ebenfalls neun Jahre. Gut, bis 1987 gab es dann mal eine kleine Durststrecke, aber auch als 13-jähriger Fan war ja der Gewinn des DFB-Pokals ein guter Grund zur Freude.

So sollte es weitergehen. So würde es weitergehen. Es gab ja keinen Grund, dass es nicht so weitergehen würde …

Rückblickend muss ich sagen: ich war jung. Ich war naiv. Mir hatte noch nie ein Mädchen das Herz gebrochen, wie also hätte ich auf darauf vorbereitet gewesen sein sollen, was in den folgenden 33 Jahren passieren würde?

Klar ist der Liverpool FC ein anderes Kaliber, aber ich musste in der letzten Woche immer mal wieder dran denken: 30 Jahre seid ihr nicht Meister geworden und macht so ein Drama? Als hättet ihr in den 30 Jahren gar nix gewonnen! Kommt mal nach Hamburg, wenn ihr wirklich etwas über Schmerzen lernen wollt. Bei euch läuft ja keiner jemals allein, laut Vereinshymne. In Hamburg, das habe ich in den letzten 33 Jahren gelernt, da weint jeder für sich allein.

Natürlich übertreibe ich gerade. Und natürlich kam das alles nicht auf einmal, sondern war ein schleichender Prozess. Natürlich war auch ich in den ersten zehn Jahren des Jahrtausends wieder voll der Hoffnung und Euphorie. Vergessen wir die tristen neunziger Jahre doch einfach und freuen uns über die Gegenwart, dachte ich 2000 als frisch zugezogener Neu-Hamburger. Neues Stadion, große Flutlichtspiele in der Champions-League, 4:4 gegen Juve, Torschützenkönig Sergej Barbarez.

Und obwohl meine Omi mittlerweile nicht mehr unter uns weilte, hörte ich ihre Stimme wieder lauter in meinem Ohr: „Der Hamburger SV musst du wissen, ist ein großer Verein“.

Aber wie sagt man so schön: Hoffnung ist die Wiese, auf der die Narren grasen.

Ich erspare uns allen nun die weiteren Stadien der Hoffnung (Kompany! Van Buyten!! Van der Vaart!!!) und auch die wahnsinnige Verdichtung des ganzen Dramas in Form der großen Werder-Wochen 2009.

„Von nun an ging’s bergab“, sang Hildegard Knef in den Sechzigern -  und muss dabei aber schon den HSV in den Jahren nach der berühmten Papier- in ihrer Glaskugel gesehen haben.

Aber auch dieser schleichende Abstieg wurde, ganz Weltverein, ausgesprochen raffiniert verpackt. Zum Beispiel mit der Verpflichtung von Ruud van Nistelrooy. Ich weiß es noch wie heute, als diese unerhörte Neuigkeit in den Pioniertagen von „Matz ab“ durch den Blog sickerte. Zwei Blog-User hatten es irgendwie als erste herausbekommen und ich war wie besoffen vor Glück. Ein echter Weltstar beim HSV! Ich habe mir sofort das Trikot mit der „22“ bestellt und auch beim ersten Blog-Treffen mit Dieter Matz in der „Raute“ gab es natürlich kaum ein anderes Thema, als dieser investigative Coup von „Eiche Nogly“.  Den User-Namen des anderen weiß ich leider nicht mehr.

Die Stimmung im Stadion, wenn Ruud am Ball war … das war wirklich ein großer Verein, Omi!

So wurde der Niedergang so erträglich, dass man ihn fast gar nicht bemerkte. Aus Champions-League wurde Europa-League, aus Huub Stevens wurde Torsten Fink, aus den genialen kleinen Engel der Jahre 2005-2008 wurde der etwas langsamere und weniger geniale kleine Engel der Jahre 2012-2015.

Und was darüber hinaus passierte, da bin ich wirklich froh, dass meine Omi das nicht mehr erleben musste. Denn Häme und Schadenfreude scheint in der Natur des Menschen zu liegen – und man kann ja nun auch nicht behaupten, der „große HSV“ hätte da nicht einiges an Angriffsfläche geboten. Vor allem wenn man ihn in den letzten zehn Jahren mit dem „kleinen FC St. Pauli“ vergleicht. Da haben sich die Vorzeichen einfach mal komplett gedreht: Am Millerntor herrscht seit einigen Jahren schon solide Ruhe. Bei uns sind ganzjährig die Chaos-Tage zu Hause.

Und das immer auf allen Ebenen: Mannschaft, Führungsspitze, sportliche Leitung, Medien … dieser Verein ist immer für eine Schlagzeile gut. Nur eben nie für eine positive!

Jedem Tiefpunkt folgt ein noch tieferer Tiefpunkt.

Beispiele gefällig?

Mit 27 Punkten und zwei Unentschieden in der Relegation nur wegen der Auswärtstorregel vollkommen unverdient in der 1. Liga bleiben? Das können wir toppen! Erster und völlig verdienter Abstieg aus der Bundesliga – den ja auch ganz Fußball-Deutschland gefordert hat? Da geht noch mehr, Freunde!

In  der 2. Liga als Herbstmeister mit einer desaströsen Rückrunde (15. Platz in der Rückrundentabelle!) den direkten Wiederaufstieg verpassen? Kein Problem, wartet einfach auf nächstes Jahr, dann geht’s erst richtig los!

Ja und was dieses Jahr passiert ist, das möchte ich hier und heute nicht aufschreiben. Schlagt einfach die Zeitung auf. Oder googlet „HSV“. Aber dass das heute nun wirklich der tiefste Tiefpunkt ist, das möchte ich wenn ich ehrlich bin, hoffen und glauben. Und bitte nicht an Vereine wie den FCK oder 1860 München denken.

Ich will mir vorstellen, dass es ab jetzt wieder bergauf gehen wird:

Dass sich wie durch ein Wunder alles ganz langsam in die andere Richtung entwickelt. Meinetwegen mit kleinen aber konstanten Schritten. Eine gute Führung, gute sportliche Leitung, eine Mannschaft, die diesen Namen verdient. Junge, ausbaufähige Talente, die erfahrenen Spielern und Führungspersönlichkeiten an die Seite gestellt werden. Ein Trainer, der sich nicht für die Vergangenheit, sondern nur für die Gegenwart interessiert und die Menschen um ihn herum nachhaltig erreicht. Eine Presselandschaft, die diesem Modell Zeit gibt, Respekt und Unterstützung.

Man sammelt sich wieder, man gibt auf dem Platz alles, man verdient sich den Respekt der Leute zurück. Man akzeptiert und verinnerlicht, dass man sich alles hart erarbeiten muss. Und dass nur dann auch Erfolge kommen. Nach ein, zwei Jahren steigt man wieder auf. Zwischendurch ärgert man mal im DFB-Pokal vielleicht den ein oder anderen Bundesligisten. Man erarbeitet sich, zurück in der Bundesliga, das Image eines Clubs, bei dem Spieler wachsen und reifen können. Man klettert konstant nach oben. Nach zwei, drei Jahren zurück in der Beletage hat man mit dem Abstiegskampf nichts zu tun. Man guckt schüchtern nach oben, kratzt ab und zu mal an den internationalen Rängen. Dann passieren noch ein paar Wunder, die ich mir heute gar nicht vorstellen kann (zum Beispiel müsste ja irgendwoher plötzlich sehr viel Geld herkommen …) und man gewinnt am 34. Spieltag der Saison, sagen wir mal, 2027/28 gegen den FC Bayern mit 3:1 verdient im eigenen Stadion und der Kapitän hält als Erbe von Uwe Seeler die Schale hoch.

Und alle singen: „Sieben mal Deutscher Meister …“ Nur davon möchte das achtjährige Kind in mir träumen. Auch und gerade in Tagen wie diesen, wo nichts weiter weg sein könnte, als solch dumme, realitätsferne Träume. Aber dieses Kind ist nun mal immer noch irgendwo in mir drin. Und wenn es nicht einmal der HSV geschafft hat, dieses innere Kind zum Schweigen zu bringen, dann wird es vermutlich niemand jemals hinbekommen. Und man kann wirklich nicht behaupten, er hätte es nicht versucht!

„Der Hamburger SV musst du wissen: Ist ein großer Verein“.

„Ja Omi, das stimmt“.

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