Marcus Scholz

12. Juli 2018

Heute war Ruhetag. Für fast alle. Denn während am Morgen die beiden Torhüter, die gestern nicht gespielt haben, mit Torwarttrainer Nico Stremlau auf dem Platz Stabilisationsübungen absolvierten, mussten die drei verblieben angeschlagenen Aaron Hunt, Douglas Santos und Tobias Knost mit Rehatrainer Sebastian Capel individuell arbeiten. Koordinations- und Laufübungen standen auf dem Plan. Und wenn alles glatt läuft, dürften bis auf Neu-Kapitän Hunt beim zweiten Härtetest im Trainingslager alle Mann dabei sein. Und selbst Hunt wird am Sonnabend beim Test gegen Rapid Wien in Wien wieder dabei sein – als Zuschauer von der Bank aus. „Ich kann mich auf viele Weisen einbringen“, so Hunt, dem vom Trainerteam und der medizinischen Abteilung nahegelegt wurde, noch zu pausieren.

Bei der teambildenden Maßnahme war er dennoch dabei. Paintball stand auf dem Plan. Und die Mannschaft, die immer mehr zu einer solchen zu werden scheint, hatte sichtlich Spaß dabei. Verdientermaßen, nachdem man am Vorabend gegen ZSKA Moskau eine deutliche Leistungssteigerung gegenüber dem schwachen 1:5 gegen Aarhus hingelegt hatte. „In der ersten Halbzeit haben wir noch nicht das gespielt, was wir spielen wollen“, so Trainer Christian Titz, der in den bisherigen fünf Tagen im Trainingslager mit Hochdruck an der taktischen Ausrichtung der Mannschaft arbeitet

„Mit dem Ball arbeiten“ und „gegen den Ball arbeiten“ sind die beiden Grundrichtungen. Und dabei setzt Titz tatsächlich auf etwas, was bei der WM kaum noch eine Mannschaft spielt: auf Ballbesitz. Und das funktioniert noch nicht so, wie sich der HSV-Coach das vorstellt. Drei Wochen hat der HSV noch, um das Titz’sche System zu verinnerlichen. Workshops mit Gruppenarbeiten, in denen die Spieler ihren restlichen Kollegen die Taktik erklärten und eigene Ideen mit einbrachten sowie die komprimierten Trainingseinheiten in Österreich sollen dafür sorgen, dass die Abläufe automatisiert werden.

Und obgleich noch viel Arbeit vor der Mannschaft liegt, ist es endlich mal eine Trainingsarbeit, bei der man einen Plan erkennen kann, eine eigene Spielidee. Dass letztlich deren Erfolg in der zweiten Liga das Maß ist, mit der Titz’ Arbeit bewertet wird, weiß der Trainer. Er weiß auch, dass sein Spielsystem mit dem hoch stehenden Torhüter, der quasi als erster Feldspieler und Anspielpunkt bei Ballbesitz fungiert, ein erhöhtes Risiko darstellt. „Aber eben auch mehr Ertrag, wenn wir es richtig spielen“, so der Coach, der statistisch belegen kann, dass durch dieses augenscheinlich risikofreudigere Torwartspiel noch nicht mehr Gegentore fallen als sonst.

Und selbst wenn es mal schiefgehen sollte, würde ich darauf wetten, dass Titz sein System nicht sofort in Frage stellt. Im Gegenteil. Titz hat ein Ziel, einen Plan – und den zieht er konsequent durch. Schon Ende 2017, als ihn der damalige Vorstandsboss Heribert Bruchhagen auf Empfehlung von Bernhard Peters in sein Büro bestellte, hatte Titz diesen Plan. Sehr konkret sogar. Von Bruchhagen darauf angesprochen, wie Titz denn eine Bundesligamannschaft führen würde, antwortete Titz ausführlich. Vielleicht sogar zu ausführlich. Denn Bruchhagen, der auf der Suche nach einer Lösung auf dem Weg zum Klassenerhalt zum damaligen Zeitpunkt einen Trainerwechsel in Erwägung gezogen hatte, konnte nur bedingt folgen bzw. wollte nur bedingt folgen. Es war einfach zu viel Neues, zu viel Veränderung für ihn. Und deshalb rückte er schnell von dem Gedanken ab, Titz oben zu installieren.

Jetzt aber ist Titz da – und er zieht seinen Plan durch. 13 Punkte in den letzten acht Ligaspielen reichten zwar nicht zum Klassenerhalt. Sie zeigten aber, dass man hier erfolgreich arbeiten kann. Und jetzt soll sein Plan die Mannschaft wieder in die erste Liga führen. Dafür wird der Trainer inzwischen auch mal richtig laut. „Ich kann diese scheiß-einfachen Fehlpässe nicht mehr ertragen. Das kann doch nicht euer Ernst sein!? Jeder Fehlpass ab sofort zehn Liegestütz“, so eine von vielen Ansagen, die den Spielern in den letzten tagen verdeutlichen sollten, wie ernst es Titz um sauberen Kombinationsfußball ist.

Dass es auf dem Weg dahin Rückschläge geben kann und wird, wissen alle. „Wir sind dabei, eine Mannschaft neu einzustellen“, so Sportvorstand Ralf Becker, „dabei brechen wir alte Strukturen und Verhaltensmuster bewusst auf. Wir müssen Veränderungen fördern, um eben die Veränderungen zu erreichen, die dringend nötig sind und sein werden.“

Personell hat man die ersten großen Schritte schon gemacht. Wood verliehen, Hahn, Waldschmidt und Walace verkauft, Papadopoluos, Ekdal, Kostic und Mavraj kurz vor ihren jeweiligen Wechseln. Und mit Khaled Narey sowie Jairo hat man schon zwei Neue, die hoffen lassen. Jairo mit seinem zu Beginn in Mainz bewiesenen Leistungspotenzial. Und Narey mit Leistungen wie gestern in der zweiten Halbzeit. Denn da zeigte der schnelle Außenbahnspieler, was sich die Offiziellen von ihm versprechen.

In der ersten Halbzeit hatte Narey noch große Probleme mit dem ersten Ballkontakt. Er verstolperte Ballannahmen und kam gar nicht erst dazu, den Ball im Tempo mitzunehmen. Anders dann in der zweiten Halbzeit, wo er am Ende auch den spielentscheidenden Elfmeter herausholte, als er mit Tempo im Strafraum das Eins-gegen-Eins suchte, es gewann und nicht anders als durch ein Foul gestoppt werden konnte.

„Für uns als Trainer wird es wichtig sein, geduldig und beharrlich an dem zu arbeiten, was wir sehen wollen. Dass es dabei Rückschläge geben wird, ist klar“, so Titz, der gegen Aarhus einen solchen hinnehmen musste und sich im Anschluss schon sichtbar zusammenreißen musste, um nicht loszupoltern. Auch gegen Moskau in der ersten Hälfte gab es viele derartige Momente.

Ein zentrales Thema ist die Spieleröffnung, die über den Torwart an den Sechser, den Achter oder über die nach außen weichenden Innenverteidiger erfolgen sollte. Zudem wird das schnelle Umschalten ebenso einstudiert wie der überraschende Seitenwechsel mit langen, diagonal geschlagenen Bällen. Und alles das war auch gestern zu sehen – mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Die Mittelfeld-Kombo Moritz/Holtby/Kwarteng hatte in der ersten Hälfte große Probleme, das Spiel gegen weitgehend tief stehende Russen zu sortieren.

Anders Matti Steinmann. Nach dessen Einwechslung erfuhr das HSV-Spiel eine wohltuende Ballsicherheit und Ordnung, die er Steinmann mit seinen klaren Ansagen auch verbal von seinen Kollegen einforderte. Insgesamt fällt auf, dass Steinmann das Titz-System am besten verinnerlicht. Für mich hat er damit sogar einen kleinen, aber erkennbaren Vorsprung gegenüber dem namhafteren Konkurrenten auf seiner Position, der da heißt Christoph Moritz. Selbst der zuletzt gerügte Vasilije Janjicic hinterließ gegen Moskau einen besseren Eindruck als der Neuzugang aus Kaiserslautern. „Die Balance aus Ballbesitz und dem effektiven Spiel nach vorn zu finden, ist uns zuerst nicht gelungen. In der zweiten Halbzeit waren wir dann klarer in unserem Spiel nach vorn“, beschreibt Titz, was Steinmanns Einwechslung bewirkte.

Von Gewinnern und Verlieren der Vorbereitung zu sprechen, erübrigt sich drei lange Trainingswochen vor dem Saisonstart dennoch. Allerdings lässt sich schon sagen, dass ein Josha Vagnoman aktuell von den jungen Spielern hinter Ito und Steinmann den besten Eindruck seitens der Nachwuchskräfte hinterlässt. Moritz Kwarteng ist im Training wie in den Spielen sehr fleißig, technisch gut und hat immer wieder gute Aktionen. Er ist aber insgesamt noch zu schwankend. Ähnliche Entwicklungen nehmen aktuell Stephan Ambrosius und Tobias Knost. Beide sind noch deutlich zu hektisch in ihren Aktionen und technisch zu unsauber im Passspiel. Von und/oder mit ihnen das risikoreiche Spiel hinten heraus aufzuziehen ist so noch keine Option. Wobei: Ambrosius hatte sich dafür in der zweiten Halbzeit gegen Aarhus als konsequenter Abräumer auf der Sechs als Alternative angeboten.

So noch keine Alternative ist Marco Drawz. Der junge Mittelfeldspieler ist schlichtweg zu verhalten, zu schüchtern. In den Zweikämpfen haut er längst nicht alles rein, was er könnte und wirkt oft, als wäre er ein Jugendlicher, der den ungleichen Kampf mit Erwachsenen führt. Selbiges gilt für seine Offensivaktionen. Obgleich er fußballerisch alle Zutaten hat, nutzt er sie nicht. Ihm fehlt eine Portion von dem Mut, den Aaron Opoku zuletzt ein wenig im Überfluss hatte. Der frisch gebackene Profi des HSV ist ein technisch hochtalentierter Außenstürmer, der gerade dabei ist, sein jugendlichen Stil ein wenig den Anforderungen des Profifußball anzugleichen. Und er ist auf einem guten Weg.

Ebenso der aus Münchens U19 gekommene Manuel Wintzheimer. Der Angreifer zeigte gestern gegen ZSKA Moskau das erste Mal, weshalb er als Toptalent geführt wird. In der zweiten Hälfte eingewechselt, machte er deutlich mehr Alarm als Pierre Michel Lasogga zuvor. Wintzheimer, der über einen extrem guten Schuss (links und rechts) verfügt, bewies dabei auch, dass er sich gegen erfahrene Profis zu wehren weiß. Moskaus robuster Innenverteidiger Rodrigo Becao wusste sich teilweise nicht anders zu helfen, als mit extrem unfairer Zweikampfführung – und Wintzheimer ließ sich das nicht gefallen.

Fazit hier: Insgesamt hat der HSV zweifelsfrei vielversprechende Talente, die es schaffen können. Aber sie werden noch eine ganze Weile brauchen. So ehrlich müssen wir bei aller Euphorie ob dieses Jugendstils dann doch sein.

In diesem Sinne, bis später. Dann mit dem nächsten Tagebucheintrag von Tom Mickel!

Scholle

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