Marcus Scholz

19. Juli 2020

 Der HSV sucht weiter. Sponsoren, Stadionnamenspartner und selbstverständlich Spieler. Spieler, die man verkaufen kann, um die eigenen Kassen so aufzufüllen, dass man die Schwachstellen entsprechend personell verstärken kann. Und hierbei kommt die Abwehr ins Spiel. Nicht die Innenverteidigung. Die machte und macht nur Sorgen. Aber die Außenverteidiger. Denn hier steckt das größte finanzielle Potenzial für den HSV. Aber bevor ich zum Verkaufen komme, will ich erst einmal aufarbeiten, warum ich die Abwehr (inklusive Keeper) als die Achillesferse der abgelaufenen Saison sehe:

Schon oberflächlich und rein faktisch lässt sich anhand der Anzahl der Gegentreffer erkennen, dass der HSV hier zu große Probleme hatte. 46 Gegentreffer – das sind 16 mehr als Meister Bielefeld und 10 mehr als der vor dem HSV platzierte Tabellendritte FC Heidenheim. Auswärts reichte es nur zu einem schwachen Torverhältnis von 27:26 Treffern. Und wie viel ein Gegentor hier oder da weniger allein in den letzten Auswärtsspielen für den Saisonausgang bedeutet hätte, muss ich hier nicht noch einmal erwähnen. Und ja, ich weiß, die Gegentreffer hingen auch mit taktischen Fehlern zusammen, die man nicht allein der Vierer (oder am Ende Dreier-/Fünferkette) zuschreiben kann. Dennoch sind die größten Mängel tatsächlich in der Abwehr festzumachen.

Um es zumindest bei einem Namen kurz zu machen: Der erst vor der abgelaufenen Saison als neuer Abwehrchef verpflichtete Ewerton war vom ersten bis zum letzten Spieltag ein Totalausfall. Fünf Einsätze, wovon nur ein Spiel über 90 Minuten ging und nicht ein einziger Sieg sind ein vernichtendes Urteil für den dauerverletzten Brasilianer, der in Hamburg noch einen Vertrag bis Sommer 2021 hat und aktuell quasi nicht verkäuflich scheint. Dass er seinen Heimaturlaub verschoben und in Hamburg geblieben ist, um wieder fit zu werden, ist sicher ein guter Ansatz. Aber letztlich muss sich der HSV die Frage stellen, ob er sich weiter einen Spieler leisten kann, der als Führungsspieler angedacht und in zwei Jahren gerade 13 Spiele über 90 Minuten absolviert hat. Ich sage: nein. Möglich ist, dass der HSV diesen Spieler halten muss, weil es keinen passenden Abnehmer gibt. Aber wenn der HSV wirklich einen Neuanfang gestalten will, muss es zumindest das Ziel sein, derartige Wagnisse zu korrigieren. Behaupte ich.

Ewerton ist als Totalausfall nicht einzuplanen

Anders gestaltet sich die rechte Abwehrseite – obgleich auch hier Ausfälle die Saison prägten. Zuerst verletzte sich Jan Gyamerah nach guten Leistungen im Training so schwer, dass er ein halbes Jahr ausfiel. Ein bitterer Moment für den ehemaligen Bochumer, der gerade richtig Fuß gefasst hatte – und damals zugleich die große Chance für den jungen Josha Vagnoman. Den hätte der HSV vor der abgelaufenen Saison schon für rund fünf Millionen Euro nach England verkaufen können, war zu hören. Aber Sportvorstand Jonas Boldt sowie Extrainer Dieter Hecking  verzichteten darauf, weil man sich noch mehr von Vagnoman versprach.

Und der 19 Jahre junge Junioren-Nationalspieler sollte das auch zunächst bestätigen. Reingeworfen funktionierte er fast auf Anhieb. Nach einem schwierigen Auftritt im Stadtderby zu Beginn gab es in den folgenden fünf Partien drei Siege und zwei Remis inklusive seines ersten Profitreffers für den HSV gegen Aue im zweiten Spiel von Beginn an. Erst das Pokalspiel und ein bitterer Fußbruch stoppten Vagnoman und zwangen den HSV zur Leihe von Mönchengladbachs Jordan Beyer. Da dieser inzwischen wieder zur Borussia zurück ist, bleiben dem HSV zur neuen Saison Gyamerah und Vagnoman – und das ist allemal gut genug. Auch für eine Spitzenmannschaft in der zweiten Liga.

 

Offen ist nur, ob Vagnoman auch bleibt. Denn wie schon vor der abgelaufenen Saison gibt es auch in diesem Jahr Interessenten an dem Mann, dessen Qualitäten meiner Meinung nach gerade einmal zu 70 Prozent zu sehen waren. Ich habe Vagnoman mal mit dem ganz jungen Jerome Boateng verglichen, als dieser 2007 zum HSV kam. Auch Vagnoman verfügt über diese auffällig rohen (zweifellos noch zu rohen) Kräfte, die richtig dosiert das Potenzial zu einem außergewöhnlichen Profi bieten. Er hat ein brutales Tempo, eine überdurchschnittliche Physis und ist als Defensivspieler zusätzlich mit Offensivqualitäten ausgestattet. Zudem ist Vagnoman keiner, der sich zu viele Gedanken macht – dafür aber über ein extremes Maß an Disziplin verfügt. Der Rechtsfuß ist für jeden Trainer ein unfassbar spannendes Projekt – gerade weil noch niemand ersehen kann, wohin das alles führen kann. Jeder Trainer kann also der erste sein, der Vagnoman zum großen Durchbruch verhilft…

Vagnoman lässt Fantasien bei den HSV-Verantwortlichen wie auch bei den Scouts anderer Klubs zu, die immerhin dazu geführt haben, dass auch in diesem Sommer wieder Interessenten da sind, die bereit sind, einen Millionenbetrag zu zahlen. Noch reichen die Angebote Boldt nicht. Aber angesichts der Tatsache, dass der HSV Geld braucht und mit Gyamerah noch einen weiteren guten Rechtsverteidiger hat, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sich der HSV dieses Jahr ernsthaft mit einem Verkauf seines aktuell wohl größten Talentes auseinandersetzt.

Letscherts Abgang ist nur logisch

Abgegeben hat der HSV inzwischen schon Timo Letschert. Intern habe man eine Unkontrollierbarkeit bei dem Niederländer ausgemacht, heißt es. Aber um dessen Abgabe zu argumentieren hätten auch die reinen Leistungen auf dem Platz gereicht. Behaupte ich. An Einsatz hat es nie gemangelt. Auch die Einstellung des extrem verbissenen Innenverteidigers war gut. Aber wie auch Nebenmann Rick van Drongelen (gute, schnelle Genesung weiterhin!!) fehlten Kopfballstärke und Tempo. Zudem kam bei Letschert eine erschreckende Schwäche am Ball hinzu, die mit zunehmender Saison immer deutlicher wurde.

Sobald Letschert am Ball Zeit hatte, wirkte er (vergleichbar mit Gideon Jung) überfordert. Einige wenige Diagonalpässe kamen an – aber ansonsten war das Passspiel nicht ausreichend. Selbst kurze Querpässe wurden zu oft in den Rücken gespielt und haben zum einen das Aufbauspiel verlangsamt, zum anderen dem Gegner die Chancen geliefert, sich zu sortieren oder gar den Ball aufnehmenden Spieler zu attackieren. Der mit gerade einmal 61,16 Prozent beste Zweikämpfer des HSV ist genau das: Ein Zweikämpfer – am Boden. In der Luft leider nicht.  Und da Letschert offenbar auch in anderen Bereichen nicht ausreichend „Kopf“ hatte, halte ich seine Nicht-Verpflichtung bzw. seinen Fortgang für eine logische, richtige Entscheidung.

 

Bei Gideon Jung weiß inzwischen beim HSV jeder, was man bekommt. Aber eben auch ganz genau, worauf man nicht mehr hoffen darf: Führung, Aufbauspiel, Ruhe. Denn Jung ist zweifellos ein guter Teamplayer, der immer alles gibt. Er hat das Tempo, das beispielsweise den Niederländern hinten gefehlt hat. Und er geht keinem Kopfballduell aus dem Weg, spielt sehr körperlich. Leider aber oft zu unkontrolliert und mit zu vielen Stockfehlern. Jung ist und bleibt für mich der Typ Backup in der Innenverteidigung. Fraglich, ob das der Anspruch des HSV sein sollte.

Womit wir zu einem schwierigen Fall kommen: Rick van Drongelen. Denn der Niederländer, der aktuell einen Kreuzbandriss auskuriert, zählt zu den wichtigsten Spielern im Kader – was die Stimmung und den Zusammenhalt betrifft. Sportlich allerdings wurden auch hier mit zunehmender Spielzeit seine Mängel in der Luft, im Spielaufbau und vor allem mental deutlich. Denn van Drongelen ist in Sachen Einstellung ein absoluter Anführer. An ihm orientieren sich viele Kollegen, er motiviert andere. Aber van Drongelen ist mental eben noch nicht soweit, diese Führungsrolle in Gänze zu übernehmen. Im Gegenteil: Der Druck, den er sich dadurch selbst aufgelastet hatte, hat ihn geschwächt – glaube ich. Es hat ihn fahrig werden und Fehler machen lassen, die er wahrscheinlich (hoffentlich) nicht machen würde, wenn er einen Abwehrchef neben sich hätte. Und den braucht der HSV. Dringend.

Leibolds Abgang ist realistisch - und kompensierbar

Der erste (alte) Neue ist das eher noch nicht: Jonas David. Daher sucht der HSV weiter nach gestandenen Spielern wie beispielsweise Klaus Gjasula, der zwar Innenverteidiger spielen kann, aber eher im defensiven Mittelfeld angesiedelt ist. Und das nicht nur einfach sondern gleich doppelt. Dem HSV fehlen zwei sehr gute Innenverteidiger neben dem talentierten Youngster David und dem Rekonvaleszenten van Drongelen. Und es ist nicht einmal ,mehr auszuschließen , dass der HSV auch noch einen richtig guten Linksverteidiger verliert – den einzigen, den er hat. Denn Tim Leibold ist weiter umworben und scheint weiter starkes Interesse daran zu haben, erstklassig zu spielen.

Statistisch wäre Leibolds Abgang extrem hart für den HSV. Aber wie beim Wechsel von Leibold für den nach Russland abgewanderten Douglas Santos ist es dem HSV ja auch diesmal nicht untersagt, noch einmal einen starken Ersatz zu finden. Diesmal vielleicht mit etwas mehr Augenmerk auf Defensive, denn dort hatte Leibold, der ansonsten eine überragende Saison gespielt hat, seine größte Schwäche. Fakt aber ist, dass Leibold selbst der beste Beweis dafür ist, dass sein Abgang nicht zwingend eine Schwächung sein muss – wenn die Verantwortlichen gut arbeiten.

Anbei die „tierische“ Einordnung meiner Kollegen:

 

Fazit: Nirgendwo hat der HSV größeren Nachbesserungsbedarf als in der Verteidigung. Mit Gjasula hat der HSV defensive Zweikampf- und Kopfballstärke fürs defensive Mittelfeld dazugewonnen. Zudem kommt mit David ein junger, talentierter, vergleichsweise schneller und kopfballstarker Innenverteidiger – aber das reicht nicht. Auf Ewerton kann sich niemand verlassen, wenn er nicht verlassen sein will. Ewerton ist für die Abwehr, was Aaron Hunt in den letzten Jahren fürs Mittelfeld war. Daher müssen noch zwei sehr gute, kopfballstarke, schnelle – und davon fußballerisch mindestens ein richtig guter Innenverteidiger als Albwehrchef kommen. Viel zu tun für die sportlich Verantwortlichen beim HSV.

In diesem Sinne, bis morgen! Da geht es dann ums Mittelfeld, um das Herzstück der neuen Thioune-Philosophie.

Scholle

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