Marcus Scholz

22. Oktober 2017

Er will eigentlich nicht mehr so reden. Aber er muss. Und es ärgert ihn, wenn er dabei wieder in alte Muster verfällt. Gut gespielt und trotzdem verloren zu haben, das sei bitter gewesen. Sagt Gisdol – und ärgert sich über seine eigenen Worte. „Zumal wir im elf gegen elf viele Dinge richtig gemacht haben“, so HSV-Trainer Markus Gisdol heute, einen Tag nach der 0:1-Niederlage gegen den FC Bayern. Nach einer Partie, die über großen Kampf und Laufbereitschaft selbst einem Weltklassetrainer wie Bayern Münchens Jupp Heynckes dazu verleitete, dem HSV eine überragende Einstellung zu attestieren. Worte von einer lebenden Trainerlegende, die Gisdol sichtlich freuten. Aber im selben Moment waren sie auch schmerzhaft. Denn alle noch so schönen Komplimente und positiven Ansätze brachten nichts – zumindest keine Punkte. Und deshalb weiß auch Markus Gisdol, dass es immer enger wird. Egal, wie viel Lob er dafür bekommt – und verteilt...

„Es nervt“, so Gisdol heute nach dem Videointerview in einer kleinen Runde, „denn wir wollen hier partout nichts schönreden oder davon sprechen, dass jetzt erst die Gegner kommen, die wir schlagen können.“ Dennoch hätten die letzten Spiele trotz Niederlagen gezeigt, dass die Mannschaft gegenüber der Vorsaison deutlich stabiler sei und dass man darauf aufbauen muss. „Diese zuletzt gezeigte taktische Disziplin ist der Maßstab, den wir in den nächsten Spielen anlegen müssen und auch anlegen werden.“ Beginnend schon kommende Woche bei Hertha BSC, wo Gisdol bekanntermaßen auf Gideon Jung verzichten muss, der gegen die Bayern mit Rot vom Platz geflogen war. Ein Platzverweis, der vielfach diskutiert wurde, weil er eben nicht gänzlich eindeutig war. Aber er ist inzwischen ein Fakt und der HSV muss mit mindestens zwei Spielen Pause rechnen. Mit welcher Strafe Gisdol rechnet? „Dazu kann und will ich nichts sagen. Ich hoffe nur, dass hier Vernunft einkehrt, da es schon eine sehr harte Rote Karte war.“

Bitter ist der Ausfall allemal. Denn gerade Jung war in den letzten Wochen einer der auffälligsten HSVer. Und das sage nicht nur ich. Denn Jung, der wirklich kein Heißsporn ist geschweige denn ein Lautsprecher, entwickelt sich gerade in eine Richtung, die ihm viele nicht mehr zugetraut hatten. Er wird im Mittelfeld der Aggressive Leader und ist aktuell ein fester Bestandteil der Startelf. „Gideons Entwicklung ist beachtlich. Er war in den letzten Wochen sehr gut und ist auf dem Weg, ein richtig, richtig guter Spieler zu werden“, spricht Gisdol ein für seine Verhältnisse überraschend großes Kompliment aus. Aber ein absolut berechtigtes, wie ich finde.

Als Ersatz in Berlin soll und könnte wieder Albin Ekdal beginnen, hofft Gisdol. Der Schwede, der mit Rückenproblemen zu kämpfen hatte und noch immer hat, soll bis zum kommenden Wochenende wieder einsetzbar sein. Und wenn er einsetzbar war, dann hat er eigentlich auch immer gespielt. Auch diesmal? Gisdol will sich noch nicht festlegen, ob Walace oder Ekdal beginnt, spricht aber vielsagend an, dass man gemerkt habe, wie gut es der Mannschaft täte, wenn Spieler über die gesamten 90 Minuten Vollgas gehen könnte. Eben so, wie Jung zuletzt häufiger und Gotoku Sakai gestern.

Für mich war der Japaner nach seinem langen Formtief gegen die Bayern sogar der beste HSVer auf dem Platz. Vor allem aber hat dieses Spiel noch mal verdeutlicht, dass der HSV-Kapitän auf der Sechs seine wahrscheinlich wertvollste Position im HSV-System hat. Er war mit 12,16 Kilometern der lauffreudigste Spieler und absolvierte die meisten Läufe aller Spieler auf dem Platz. Und sowohl bei den Sprints als auch bei den gewonnenen Zweikämpfen waren nur Dennis Diekmeier sowie Münchens Bester Kingsley Coman besser als der HSV-Kapitän, der von Gisdol heute ein Extralob erhielt und auch in Berlin gesetzt sein dürfte. Und wie gesagt, ich hoffe, dass es wieder die Sechs sein wird.

Ebenso wie ich hoffe, dass Gisdol das gestrige System mit Fünferabwehrkette als Alternative zum sonstigen 4-2-3-1 beibehält. Er habe mit Freude gesehen, dass das System funktioniert, so Gisdol heute zur Fünferkette gegen dien Bayern, die ich für das variabelste System halte. Denn so kann der HSV aus einer massierten Defensive kommend auf Konter setzen oder die beiden Außenverteidiger ins Mittelfeld vorschieben, um dort eine Überzahl herzustellen. Wobei man zugeben muss, dass das gestern nur defensiv wirklich gut funktioniert hat. Gegen einen Gegner wie den FC Bayern ist das zwar durchaus normal, allerdings muss sich der Alleinunterhalter im HSV-Sturm dafür mächtig steigern. Denn dieser Bobby Wood ist aktuell eine große Enttäuschung. Finde ich.

Denn wenn Wood eine Qualität hat, dann ist es sein Tempo. Und genau das wird bei einem so auf Konter ausgelegten System zwingend benötigt. Soll heißen, der US-Amerikaner müsste sich immer versuchen, im Rücken der gegnerischen Abwehr davonzustehlen, damit er bei jedem Ballgewinn mit einem langen Ball in Szene gesetzt werden kann. Und das macht er schlichtweg nicht. Dass das letztlich nicht der schönste Fußball ist, ist mir klar. Aber darauf kommt es beim HSV eben schon lange nicht mehr an. Vielmehr ist es der funktionalste Fußball, den dieser HSV spielen kann.

Apropos schön bzw. nicht schöner Fußball: Gestern etwas untergegangen – bei mir im Blog wie auch im Spiel – ist Aaron Hunt. Der Linksfuß fand gestern keine Bindung – war aber auch komplett fehl am Platze, wie ich finde. Denn entweder flogen die Bälle lang über ihn hinweg oder er wurde in Laufduelle geschickt, die er mit seinem Mangel an Tempo nicht gewinnen konnte. Und angesichts der mangelnden spielerischen Qualität im Kader wird der HSV auch auf Sicht nicht auf spielerische Dominanz setzen können/dürfen. Und das wiederum müsste konsequenterweise dazu führen, dass Hunt künftig eher über die Bank kommt. Anders als Wood übrigens, der von Gisdol quasi einen Persilschein erhielt. Über den seit Monaten formschwachen Angreifer sagt Gisdol: „Bei Stürmern ist es wie bei Torhütern. Er bekommt mein Vertrauen, weil ich weiß, dass er es kann. Und so nehme ich ihm den Druck, treffen zu müssen. Wenn dieser Druck wegfällt, dann kommt der Rest auch wieder.“

Zudem hat Gisdol, was er natürlich nicht sagt, auch für die Sturmspitze keine echte Alternative, solange Hahn über außen kommt und Jann-Fiete Arp nach dem heutigen Viertelfinal-Aus gegen Brasilien (1:2) bei der U17-WM noch nicht wieder zurück ist. Wobei, bei allem berechtigten Hype um Arp, ich bleibe dabei, dass ein Törles Knöll, der beim 6:0 der U21 heute gegen Oldenburg dreimal traf, in den Kader mitgenommen werden muss. Der Nachwuchstorjäger hat enormes Potenzial, das entwicklungsfähig ist. Dass er im Training noch nicht überragt, ist klar. Dennoch ist er noch völlig unverbraucht und braucht vielleicht einfach mal DIE Chance, was man bei dem bald 29 Jahre alten Sven Schipplock eher nicht mehr sagen kann.

Pluspunkte sammeln konnte gestern übrigens Douglas Santos, der sich sehr gut auf Robben eingestellt hatte bzw. eingestellt worden war. Wobei man klar dazu sagen muss, dass ihm das System mit drei defensiveren Spielern noch hinter ihm sehr entgegenkommt. So konnte er den pfeilschnellen Robben immer „doppeln“ (zumeist mit van Drongelen oder auch mal Sakai). Dass gestern das Hauptaugenmerk auf der die gerichtet war – logisch. Aber Santos hat die technischen Möglichkeiten, auch die Offensive ein wenig beleben zu können und so im gefühlt 100. Anlauf doch noch zur A-Lösung für die linke Seite zu werden. Vielleicht benötigt auch er einmal das Vertrauen, was Gisdol beispielsweise einem Wood seit langem schenkt, um seine ganze Qualität auszuspielen. Wobei man merkt, dass es zwischen Gisdol und Santos im Sommer atmosphärische Störungen gegeben hat, die noch nicht gänzlich ausgeräumt sind und die einen kompletten Neustart schwierig machen. Dennoch glaube ich, dass es nach dem gestrigen Spiel den Versuch wert wäre.

Und wenn ich schon bei Vertrauen bin, möchte ich an dieser Stelle noch einmal Euch allen einen herzlichen Dank aussprechen. Bei meinem sehr spontanen Wechsel vom Abendblatt zur Rautenperle bin ich ein hohes Risiko eingegangen, viele von Euch zu verlieren, weil ich niemanden darüber informieren wollte, bevor ich es fairerweise meinem langjährigen Arbeitgeber mitgeteilt hatte. Dass schon am ersten Tag danach in einer so spontanen Aktion knapp 30 Leute zum gemeinsamen Spiel gucken ins „Lust auf Griechenland“ gekommen sind, fand ich schon überragend. Genauso wie die Tatsache, dass binnen einer Woche hier eine Gemeinde entstanden ist, die quantitativ und qualitativ alle unsere Erwartungen übertrifft und die täglich weiter wächst.

 

Vielen, vielen Dank an dieser Stelle schon einmal dafür! So kann es weitergehen!

 

In diesem Sinne, noch mal zusammengefasst: Beim HSV gibt es tatsächlich positive Ansätze aus dem Bayern-Spiel mitzunehmen. Allerdings sind sie auch nur so lange positiv, wie die Mannschaft sie in die nächsten Spiele mitnimmt. Auch in die, die nicht automatisch einen maximalen Motivationscharakter mit sich bringen wie die Duelle gegen den Rekordmeister im Volksparkstadion unter Flutlicht an einem Samtsagabend. Denn nur dann kann es in dieser eh schon absehbar schwierigen Saison funktionieren.

 

Bis morgen. Da ist übrigens trainingsfrei. Trainiert wird erst am Dienstag wieder um 10 und um 15 Uhr.

 

 

Bis morgen!

Scholle

 

P.S.: Markus Gisdol und Schiedsrichter Marco Fritz werden sicher nicht mehr beste Freunde seit gestern. Und das nicht nur, weil sie bei der Roten Karte unterschiedlicher Auffassung sind. Vielmehr gab es gestern auch ein Wortgefecht, an dessen Ende Fritz zu Gisdol sagte, er solle doch mal "tief durchschnaufen". Am Ende soll einer der Cotrainer gemeint gewesen sein, was Gisdol nicht glauben wollte. Der HSV-Coach heute immer noch sauer: "Sowas habe ich noch nie erlebt."

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