Marcus Scholz

19. Dezember 2017

Es gab eine Phase, in der hat es mir einfach keinen Spaß gemacht, Länderspiele zu schauen. Genau genommen war es so zwischen 1998 und 2002. Und zwar, weil mir der Fußball nicht gefiel. Vor allem aber hatte ich für mich einen Gradmesser ausgemacht: Carsten Ramelow. Der Leverkusener Mittelfeldspieler zählte zu der Kategorie Mentalitätsspieler. Das wird ganz oft gesagt, wenn Spieler über ein an sich normales aber inzwischen schon als außergewöhnlich gekennzeichnetes hohes Maß an Einsatzbereitschaft verfügen. Sie sind zuverlässig. Man weiß einfach genau, was man von ihnen bekommt. Aber man weiß meistens auch ziemlich genau, was man eben nicht bekommt. Und das ist guter Fußball. Nicht, dass Ramelow ein schlechter Fußballer war. Ganz im Gegenteil: Er hat wirklich alles aus seinen Möglichkeiten gemacht und diese erfolgreich für Leverkusen einbringen können. Aber es fehlte ihm in meinen Augen das Besondere, das ihn zum Tragen des DFB-Trikots befähigte.

Und für mich galt damals: Solange Spieler Carsten Ramelow Nationalspieler werden, fehlt der Nationalelf Qualität. Dann kann es um die DFB-Elf nicht allzu gut bestellt sein. Nicht gut genug. Und dieser Gedanke verblendete mich lange. Insgesamt 46-mal trug er das Trikot mit dem Bundesadler. 46 Mal! Das ist schon was. Denn kein Bundestrainer nimmt freiwillig einen Spieler in den Kader oder gar mit zu den Endturnieren, wenn er nicht von seiner Qualität überzeugt ist. Und es dauerte eine Weile, bis ich endlich umdenken konnte. Bis ich begriff, dass Ramelow tatsächlich der Beste war für seine Position: Zumindest relativ betrachtet. Und so arrangierte ich mich recht schnell. Ich akzeptierte, dass meine Ansprüche nicht der Wirklichkeit entsprachen. Für den Moment war Ramelow die beste Wahl. Und sobald es einen besseren Sechser geben würde, wäre Ramelow Vergangenheit. Punkt.

Warum ich das schreibe? Weil ich glaube, dass sehr viele hier ein sehr ähnliches Problem mit Dennis Diekmeier haben. Der Rechtsverteidiger muss immer wieder als Sinnbild für überbezahlte Durchschnittlichkeit beim HSV herhalten. Knapp 1,3 Millionen Euro verdient der Rechtsverteidiger beim HSV aktuell. Viel mehr als fast alle von uns, behaupte ich mal. Und jetzt soll der gerade zum vierten Mal Vater gewordene 28-Jährige um zwei Jahre verlängern. Zu leicht verbesserten Bezügen sogar – was immer diskutabel ist. Wie eigentlich alles in diesem Fall. Aber der Reihe nach.

Beginnen wir mit den Fakten. Diekmeier kam 2010 für 2,2 Millionen Euro aus Nürnberg zum HSV und sollte als offensiver Rechtsverteidiger dem HSV helfen, Tempo ins Spiel zu bekommen. Bis heute ist Diekmeier einer der schnellsten Spieler im Team sowie in der gesamten Liga. Von den 255 möglichen Erstligaspielen absolvierte Diekmeier unter acht Trainern (exklusive der Interimszeiten von 2x Cardoso, Arnesen und Knäbel) 197 Partien und zählt seit Jahren trotz kleiner Pausen zur Stammelf. Kurzum: Diekmeier zählt zu dem Personal, auf das die Trainer der letzten sieben Jahre gesetzt haben. Und das wahrscheinlich, weil sie ihn für die zum jeweiligen Moment beste Lösung hielten und aktuell immer noch halten. Gut, Tore erzielt hat er bis heute keines. Wobei man auch klar sagen muss, dass bis dieses Jahr keiner der HSV-Trainer wirklich auf die Offensivfähigkeiten Diekmeiers setzte. Stattdessen galt: Defensive zuerst.

Neuerdings setzt Markus Gisdol darauf, dass seine Außenverteidiger nach vorn mitarbeiten sollen. Santos links, Diekmeier rechts – das ist der ganz aktuelle Stand. Und während Santos seine Sache in Gänze hervorragend löst, hat auch Diekmeier seit Saisonbeginn seine wahrscheinlich beste Phase beim HSV und bereitete schon drei Treffer vor, während er als Absicherung bei Standards sowie aus dem Spiel auffällig oft vor Gegntoren rettete. „Weil er um einen neuen Vertrag spielt“, heißt es von denen, die ihn hier nicht mehr sehen wollen. Und es ist sicher nicht auszuschließen, dass die Tatsache, dass sein Vertrag ausläuft, ihn zusätzlich motiviert. Was aber selbst seine größten Kritiker fairerweise sagen (müssen): An Einsatzwillen hat es Diekmeier nie gemangelt. Er setzt ihn aktuell nur effektiver ein.

Und das spricht sicher für ihn. Die Fragen aber, die sich bei Diekmeier vielmehr stellen, sind vielmehr: Gibt es bessere Alternativen im Kader oder von außen? Und die beantworten die hiesigen Trainer allesamt mit „nein“, indem sie ihn immer wieder bringen. Diekmeier scheint tatsächlich etwas bieten zu können, was ihn qualifiziert und was wir bzw. viele von uns vielleicht nicht so sehen. Oder aber der HSV ist auf der Position einfach so unglaublich schlecht besetzt, dass selbst ein unterdurchschnittlicher Spieler wie Diekmeier die beste Wahl ist. Dann muss sich der Vorstand/Sportchef hinterfragen...

Wenn ein Sportchef bzw. der Verein seinen Kader plant, dann muss er immer versuchen, das Beste mit seinen Möglichkeiten zu erreichen. Logisch. Diese sind beim HSV zweifelsfrei sehr begrenzt. Zumindest die, mit denen Sportchef Jens Todt regulär planen kann. Alles, was von Klaus Michael Kühne extra kommt, ist eben „extra“ – also nicht wirklich einplanbar. Diekmeier ist offenbar aktuell der beste Rechtsverteidiger im Kader – so sieht es zumindest einer: der Trainer. Und mit 1,3 Millionen Euro per annum ist ein Spieler mit der Erfahrung von 167 Bundesligaspielen nicht überbezahlt – relativ betrachtet wohlgemerkt. Beim HSV ist Diekmeier mit seinem Gehalt sogar in der unteren Hälfte der Stammspieler. Ergo: Relativ

betrachtet ist er günstig und zuverlässig. Geht man hier rein faktisch vor, spricht eher nichts gegen einen neuen Vertrag über zwei Jahre. Im Gegenteil: Diekmeier gilt als Mentalitätsspieler, als einer, der den Verein liebt und lebt. So sehr, dass er ob seiner medialen Omnipräsenz (er ist einer der wenigen, die bei Anfragen vom Verein nicht neun sagen...) den Leuten oft schon auf den Keks geht. Wer hier die Hintergründe kennt, denkt allerdings anders.

Dennoch ist es bei jedem Spieler, egal ob er Ronaldo, Messi, Lewandowski oder eben Diekmeier heißt, dasselbe Prinzip: Der Markt bestimmt den Preis. Und wenn Diekmeiers Berater, der beim HSV ebenfalls omnipräsente Volker Struth, verlauten lässt, dass es für Diekmeier in Deutschland und in England momentan einen guten Markt gibt – dann ist das toll für den Spieler. Für Diekmeier. Aber wenn der HSV seine Hausaufgaben gemacht hat, wovon ich bis zum Beweis des Gegenteils einfach mal ausgehe, dann hat er für Diekmeiers Position ebenfalls einen Markt recherchiert. Und der sollte größer sein. Viel größer als der für Diekmeier bei anderen Vereinen jedenfalls. Und im besten Fall auch günstiger.

Langer Rede kurzer Sinn: Wenn der HSV bzw. HSV-Sportchef Jens Todt ihre Hausaufgaben gemacht haben, haben sie für sich festgelegt, welchen Anspruch sie realistisch für die kommende Saison anlegen können, also welche Qualität sie sich wo leisten können. Und dann gilt es zusammenzubauen. Schritt für Schritt wird das vorgezeichnete Kadergerüst abgearbeitet. So gut, wie es geht. Alles immer mit einem Plan A und einem Plan B. Der Verein darf nie in die Bredouille kommen, diesen einen Spieler, der ihm gerade gegenübersitzt, bekommen zu MÜSSEN. Denn dann kann dieser den Verein ausziehen.

Oder aber der Verein begibt sich aus wirtschaftlicher Unfähigkeit in die Abhängigkeit vom Fremdfinanziers – eben so, wie der HSV mit Kühne. Dann kann plötzlich ein Außenstehender und/oder themenfremder maßgeblich mitbestimmen. Sollte dieser Investor/Mäzen/Sponsor oder kurz: Geldgeber dann auch noch einen Spielerberater als persönlichen Berater für seine Forderungen heranziehen, dann wird es kompliziert. Zumal dann, wenn plötzlich viele seiner Spieler teuer beim HSV spielen und noch mehr verpflichtet werden. Denn so nahe das natürlich auch liegt – so ethisch-moralisch schwierig ist es. Plötzlich gerät der Verein unter den Verdacht, fremdgesteuert zu sein und die Beraterinteressen über die des HSV zu stellen. Dass gerade Volker Struth finanziell sicher keine Diekmeiers mehr beim HSV unterbringen muss, um zu überleben – egal. Der Verdacht überlagert die Realität. Und am Ende leidet der Spieler am meisten darunter. Obwohl er wirklich als einziger von allen überhaupt nichts dafür kann...

Deshalb sollten wir immer bedenken: Solange der Spieler das Maximale versicht, ist er nie zu schwach oder zu teuer – der Verein hat lediglich zu teuer eingekauft.

Aber auch ich habe natürlich eine Meinung zu Dennis Diekmeier. Ob ich mit ihm verlängern würde? Ja, würde ich. Aber der Situation geschuldet nicht zu verbesserten Bezügen. Denn wenn der HSV noch immer „so ein Brett“ ist, wie es die Verantwortlichen immer betonen, dann müssen sie es auch vorleben und in Verhandlungen einfließen lassen. Hinzukommt, dass der HSV Kaderkosten einkürzen muss. Und da ist die Rechnung ganz einfach. Mathematisch sogar unumgänglich: Denn da es marktwirtschaftlich unumgänglich sein wird, dass umworbene Geringverdiener wie Ito und Arp sowie demnächst auch weitere junge Toptalente deutlich teurer werden, als sie es jetzt sind, dann kann man bei den älteren Spielern die Gehälter nicht auch noch hochfahren. So hat es der HSV zwar immer wieder gemacht – aber wir wissen alle, wo das hingeführt hat.

Sollte Diekmeier irgendwo ein deutlich besser dotiertes Angebot erhalten, ist es sein gutes Recht, zu gehen. Das kann man ihm nicht übel nehmen. Ebenso wenig darf man es dem HSV verübeln, wenn er seine Möglichkeiten nicht mehr überschreitet und alles nutzt, um die Spieler so kostengünstig an den HSV zu binden, wie es geht. Denn ohne respektlos erscheinen zu wollen, behaupte ich, dass Diekmeier mit seinem aktuellen Gehalt sehr gut bezahlt ist. Zudem ist er in Hamburg glücklich, weil er den HSV wirklich als seinen Verein ansieht – und vor allem, weil er sich mit seiner Familie heimisch fühlt. Ich bin mir sicher, dass Dennis Diekmeier den HSV nicht wegen ein paar Euro mehr verlassen würde. Darauf kann der HSV beim Vertragspoker setzen. Nein, aus Vereinsinteresse: Darauf MUSS er setzen.

Wenn man tatsächlich mehr bieten will, dann sollte man neben einem realistischen Gehalt eine ebenso realistische Erfolgsprämie in Aussicht stellen. Diese darf auch gern extrem reizvoll sein, wenn der Erfolg es entsprechend zurückzahlt. Und das Beste daran: So eine Geschichte wäre auch noch schön zu erzählen. Der Spieler verzichtet für den HSV nachweislich auf ein paar Euro und kann am Ende trotzdem das verdienen, was er woanders bekommen hätte bzw. was er in den Verhandlungen aufgerufen hatte. Und das alles nur, wenn der Erfolg stimmt. So hätte der HSV die Möglichkeit, Gehalt und sportliche Leistung in Einklang zu bringen. Vielleicht hilft es Diekmeier ja sogar, in Hamburg bei den eigenen Anhängern mehr Akzeptanz zu erlangen als bisher. Schlechtestenfalls bliebe er dann zumindest eines für die Fans: ein Mentalitätsspieler...

In diesem Sinne, Entschuldigung, Carsten Ramelow. Und bis morgen. Da werde ich anstelle des Tagesblogs zwischen 11 und 14 Uhr versuchen, alle Eure Fragen direkt zu beantworten.

Bis dahin!

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