Marcus Scholz

1. September 2020

Es sind noch knapp fünf Wochen, die der HSV hat, um seinen Kader final zusammenzustellen. Das Trainingslager ist absolviert und am Sonnabend findet sogar schon der letzte Test vor Saisonbeginn statt, wenn es im Volksparkstadion gegen den Erstligisten Hertha BSC geht. Es wird die letzte Möglichkeit für die Spieler sein, sich im Spiel für einen Stammplatz zu empfehlen. Und es ist tatsächlich ein guter  Moment, um einmal ein erstes Fazit zu ziehen, wie weit der HSV insgesamt schon ist. Und dafür zähle ich gern einmal auf, was ich vor dieser Wechselperiode als größte Baustellen erachtet hatte:

  1. Der HSV hatte keine klare Nummer eins.
  2. Der HSV hatte Probleme bei hohen Bällen im eigenen Sechzehner.
  3. In der Innenverteidigung fehlte Kopfballstärke und Tempo.
  4. Auf der Außenbahn rechts kam zu wenig offensiv.
  5. Auf der Sechs fehlte der Abräumfaktor.
  6. Auf der zehn fehlte das Tempo im Umschaltspiel.
  7. Auf der Neun fehlte nach dem Abgang von Pohjanpalo der Knipser.
  8. Der HSV-Kader war nicht stabil genug, um Talente zu tragen und zu entwickeln.

Soweit, so gut. Das zur Theorie. Aber wie weit ist der HSV in der Praxis? Kommen wir zu Punkt eins:

 

1. Hier ist Trainer Daniel Thioune noch nicht viel weiter. Vor Vorbereitungsbeginn stand ein Wechsel von Julian Pollersbeck im Raum, der alle Fragen im Vornherein beantwortet hätte. Und noch immer gibt es Gerüchte über einen möglichen Wechsel, sofern dem HSV und Pollersbeck ein entsprechendes Angebot vorgelegt würde. Schon deshalb spielt Thioune auf Zeit. Problem: Egal, ob er nun Pollersbeck oder wieder Daniel Heuer Fernandes zur Nummer eins macht – der jeweils andere würde desillusioniert und demotiviert. Daher auch die angekündigte Variante mit einem Pokalkeeper und einer Nummer eins für die Liga. Rein sportlich betrachtet hat Pollersbeck die besseren Paraden gehabt – aber mindestens genauso viele Unkonzentriertheiten wie Heuer Fernandes. In dieser Statistik wäre tatsächlich Tom Mickel der Beste. Dennoch glaube ich, dass Mickel auch unter Thioune als Nummer drei gesetzt ist, solange Heuer Fernandes und Pollersbeck da sind. Und solange das der Fall ist, wäre meine Wahl klar: Julian Pollersbeck. Wichtiger als das aber ist: Auf dieser Position hat der HSV kein Problem – hier kann er sich nur selbst eines machen, wenn er die Entscheidung zu lang hinauszögert.

Thioune zögert bei Torwartentscheidung noch

Aber das weiß Thioune, der bereits angekündigt hat, dass seine neue Nummer eins das uneingeschränkte Vertrauen bekommen wird. Mit anderen Worten: Das Wechselspiel aus der vorangegangenen Saison soll sich nicht wiederholen – und das ist auch gut so. Womit ich zum nächsten Punkt komme:

2. Pollersbeck ist der bessere Keeper bei hohen Bällen. Auch stark ausbaufähig, ehrlich gesagt. Aber eben noch besser als Heuer Fernandes, der auch deshalb von Thiounes Vorgänger Dieter Hecking im Saisonfinale auf die Bank rotierte. Inzwischen hat sich der HSV mit Klaus Gjasula und Toni Leistner zwei richtig gute Kopfballspieler für die defensive geholt. Dazu kommen mit Jonas David und Stephan Ambrosius zwei Youngster, die ebenfalls gut im Kopfballspiel sind. Ergo: Vier Kopfballspieler, die Heuer Fernandes letzte Saison noch nicht vor sich hatte, um hohe Bälle abzufangen. Sie allein können Heuer Fernandes‘ bzw. die letztjährige HSV-Schwäche so kaschieren, dass sie kaum mehr auffällt. Vor allem aber können sie dem HSV defensiv die Sicherheit bei Ecken und anderen hohen Bällen in den eigenen Sechzehner geben, die letzte Serie zum Ende hin fast zur Achillesferse des HSV-Spiels avancierte. Hier haben Sportvorstand Jonas Boldt, Sportdirektor Michael Mutzel und Trainer Daniel Thioune einen guten Job gemacht bis hierhin.

Dass man hier tatsächlich noch einen zweiten erfahrenen „Säulenspieler“ holen will, kann ich mir ehrlich gesagt nicht vorstellen. Da zudem noch Ewerton zurückkehrt, wäre dieser Führungsspieler schon im Kader. Und solange der im Kader steht, kann ich mir kaum vorstellen, dass der HSV seine wenigen Euros in einen weiteren Innenverteidiger stecken. Zumal auch ein Rick van Drongelen im Laufe der Rückrunde spätestens wieder zurückkehrt. Hier  hat der HSV hier genügend Auswahl bzw. müsste erst einmal Spieler abgeben, bevor hier neue kommen können.

 

3. Das Thema Kopfballstärke haben wir abgehandelt, in Sachen Tempo fehlt es mir beim HSV noch immer – aber eher offensiv. Mit Ambrosius und/oder David neben Toni Leistner sowie den Außenverteidigern Josha Vagnoman und Tim Leibold ist genügend Tempo vorhanden. Insbesondere Leistner bringt noch einmal mehr Zweikampfstärke (inkl. Mehr Tempo) mit, als seine Vorgänger Timo Letschert und van Drongelen.

Der HSV hat endlich die benötigten Kopfballspieler

Aber zu dem ehemaligen Berliner, Londoner und Kölner gibt es im Vorfeld zum Spiel gegen Hertha BSC mehr. Dafür habe ich heute auch mit meinem Berliner Blog-Freund Daniel Rossbach (textilvergehen.de) ein sehr nettes, ausführliches Gespräch gehabt. Stattdessen geht es hier weiter mit Punkt 4.

4. Mit Josha Vagnoman und dem leider noch immer nicht komplett genesenen Jan Gyamerah hat der HSV zwei sehr schnelle Rechtsverteidiger, die beide das offensive Spiel beherrschen. Zumindest zählen sie beide zur Oberklasse der Zweiten Liga. Problem hier ist nur, dass sie es sich zu selten zutrauen bzw. dass der HSV hier insgesamt noch taktisch nachbessern muss. Am auffälligsten wird das immer, wenn Vagnoman und der pfeilschnelle Bakery Jatta auf einer Seite spielen. Dann hat man so viel Tempo, dass man jedem Gegner riesengroße Probleme machen muss. Schon vor dem Spiel sorgen die läuferischen Qualitäten im Normalfall beim Gegner für Stress. Nicht aber, wenn sich Jatta und Vagnoman wie zuletzt zu oft auf den Füßen stehen und sich gegenseitig die Räume nehmen, die sie brauchen, um ihr Tempo auszuspielen. Ursache: Jatta steht oft zu tief. Seine optisch guten Ballgewinne sind oft Eingriffe in den Wirkungsbereich Vagnomans, den dieser auch im Griff hätte. Und:  Machen Jatta/Vagnoman es mal richtig, dann wird das auch gleich gefährlich – wie beim Treffer von Terodde gegen den VfB Stuttgart zu sehen. Zudem war gegen Feyenoord erkennbar, dass sich Vagnoman besser mit einzuschalten wusste, als Narey vor ihm agierte. Hier haben Thioune und Co. taktisch noch viel zu erklären, um Jatta in die Spur zu bekommen – was sich zweifellos lohnen würde.

Niemand hat je behauptet, dass es leicht wird für Thioune. Auch er selbst hat das nie gesagt – im Gegenteil. Aber die bisherigen taktischen Veränderungen bzw. Schwerpunkte in Thiounes Trainingseinheiten lassen mich hoffen, dass hier ein Trainer am Werk ist, der nicht mehr nur Qualität verwaltet und sich darauf verlässt, sondern der hier etwas entwickelt. Sich auf die Basics zu konzentrieren und allen erst einmal deutlich zu machen, dass man eben nicht die Übermannschaft hat, die kleine Fehler in der Defensive mit seiner grundsätzlichen Qualität ausgleichen kann war Gold wert. Man kann eben nicht einfach immer ein Tor mehr schießen als der Gegner. Und dafür brauchte es auch mehr Abräumerqualität auf der Sechs, womit ich zu Punkt Nummer fünf komme.

Gjasula bietet Möglichkeiten für Kittel und Co.

5. Auf der Sechs hat der HSV nämlich genau darauf gesetzt. Hecking und Co. dachten, dass man mit spielerischer Qualität alles regeln könnte. Und zu Beginn der abgelaufenen Saison funktionierte das mit einem herausragenden Adrian Fein als Pass- und Taktgeber auch hervorragend. Aber irgendwann hatten sich alle Gegner darauf eingestellt – und kämpften den HSV im Mittelfeld schon kaputt. Fein kam kaum mehr zur Geltung, weil er ständig in Manndeckung genommen wurde. Jetzt hat der HSV reagiert und mit Gjasula sowas wie den Konterpart Feins geholt: Helmträger Klaus Gjasula, dessen vorrangige Qualität das Abräumen im Mittelfeld ist. „So einer wie er hat uns gefehlt“, sagte Aaron Hunt heute – und damit hat er Recht. Am besten aber in Sachen  Kadergestaltung finde ich, dass man sich hier mit Gjasula genau den richtigen Mann geholt hat, um parallel dazu mit Amadou Onana einen jungen, hoch talentierten Spieler in aller Ruhe aufzubauen, ohne ihm zu viel Druck aufzubürden. Gjasula ist sozusagen der Blitzableiter für alles, was im Zentrum schief geht – und diese Verantwortung übernimmt der Albaner nach eigener Aussage gern.

Womit wir gleich zum nächsten Thema kommen, das heute auch durch das angebliche Interesse vom VfL Bochum an Lukas Hinterseer noch einmal aktuell wurde. Den Angriff. Denn hier hat der HSV in der abgelaufenen Saison meiner Meinung nach einen großen Fehler gemacht, als Hecking anfing, zu viel zu rotieren bzw. seinen bis dahin vergleichsweise treffsicheren Stoßstürmer Hinterseer zu demontieren. Nicht, weil der so super spielte. Das tat er nicht. Aber er traf – und dafür war er geholt worden. Anstatt hier etwas mehr Geduld zu haben, wurde ein Spieler vorgezogen, dessen Zukunft beim HSV schon bei der Verpflichtung auf Leihbasis absehbar kurz war. Dass Joel Pohjanpalo letztlich knipste – top! Aber ich behaupte, ein Hinterseer hätte nicht viel weniger getroffen, wenn man ihm vertraut hätte und ihn im Sturmzentrum hätte spielen lassen, anstatt ihn nur noch (vor allem als Rechtsaußen!!) einzuwechseln. Hier hat sich der HSV einen Stürmer selbst demontiert. Aber bevor ich zum Sturm komme, noch ein Wort zum Mittelfeld, das auch in diesem Jahr alles entscheidend für die Offensive sein wird:

6. Denn was passiert, wenn der HSV mal schnell durchs Mittelfeld spielen kann, war gegen Feyenoord Rotterdam zu sehen. Im Test davor gegen den VfB Stuttgart hatte Aaron Hunt gefühlt bei jedem Angriff mindestens einmal den Ball am Fuß. Was für ihn spricht. Und Hunt ist auch immer wieder in der Lage, den Ball zu halten und sicher weiterzuspielen. Problem hierbei ist aber die Handlungsschnelligkeit, die im Gegenzug für die Kontrolle abgeht. Mit Sonny Kittel sowie Dudziak neben/vor Gjasula hatte der HSV defensiv mehr Sicherheit und nach vorn zwei Wildfänge, die für Gefahr sorgten. Dass das nicht immer gut ist, weiß ich. Daher werde ich hier an dieser Stelle auch nicht schreiben, was die meisten von Euch lesen wollen. Denn ich glaube, dass der HSV Hunt noch solange immer wieder brauchen wird, wie Kittel und Dudziak diese routinierte Rolle nicht übernehmen. Aber ich behaupte, dass der HSV gut beraten wäre, die  Ablösung Hunts zu forcieren. Dazu zählt eben auch, häufiger auf Kittel auf der Zehn zu setzen. Oder auf Dudziak, sobald Amadou Onana neben Gjasula so eine Art Achter gibt. Selbst David Kinsombi, der in der Vorbereitung leider keine Werbung für sich machen konnte, hat schon bewiesen, dass er offensiv gefährlich sein kann, wenn er entsprechende Freiheiten hat. Mit anderen Worten: Auch hier ist die Basis da – jetzt kommt es auf Thioune an. Vor allem auch, weil der HSV im Angriff nur den halben Wert hat, wenn es nicht genügend Bälle in den gegnerischen Sechzehner gibt.

 

Ein Problem, dass man mit Hunt auf der Zehn schon zu Zeiten von Pierre Michel Lasogga hatte. Und auch ein Zweitliga-Topstürmer wie Terodde wird letztlich verhungern, wenn der HSV nicht das Spieltempo offensiv erhöht, um so freue Räume zu schaffen und zu bespielen. Dass die meisten HSV-Gegner grundsätzlich kompakter verteidigen ist nichts Neues. Auch deshalb hatte Thioune immer wieder betont, dass das Umschaltspiel schneller werden muss. Der HSV muss ein Fach seine Angriffe inszeniert haben, ehe die komplette gegnerische Mannschaft wieder in die Grundformation zurückgekehrt ist. Ansonsten bleibt nur der Weg über die individuellen Könner, die das Eins-gegen-Eins suchen - und es auch gewinnen. Denn auch so kann man sich die nötigen Räume erarbeiten, um die Angreifer mit Pässen zu füttern. Denn das wird zwingend notwendig sein, damit ein Terodde funktioniert. Oder auch ein Hinterseer, womit ich zu meinem letzten Punkt komme:

Im Angriff steht und fällt alles mit den Zuspielen

7. Denn beim HSV glaubt man offenbar nicht mehr daran, den von Hinterseer eingeschlagenen Weg noch einmal umzukehren. Auch deshalb hat man vom Typus her den sehr ähnlich spielenden Simon Terodde geholt. Einen Stürmer mit noch mehr Statistik zweifellos. Und vor allem einen, der sich sicher nicht für Hinterseer auf die Bank setzen wird. Ein „Säulenspieler“ sei Terodde, hatte Boldt zuletzt gesagt. Und damit hat er auch deutlich gemacht, dass Terodde definitiv weit vor Hinterseer steht. Dass letztlich im Trainingslager Manuel Wintzheimer sich zum Stürmer Nummer zwei hochspielte – mich freut es für den fleißigen Bayern. Er ist zweifellos der leidenschaftlichste Kicker unter den Stürmern, zu denen ich Bobby Wood nicht mehr dazuzähle nach dessen Auftritten in dieser Vorbereitung. Fakt aber ist, der HSV ist offensiv gut aufgestellt – auch wenn mir hier weiterhin der dribbelstarke Sprinter fehlt.

Aber vielleicht steckt der noch irgendwo im Nachwuchs und ist für mich aktuell nur nicht zu erkennen. Zumindest glaube ich, dass der HSV aktuell tatsächlich ein gutes, stabiles Gerüst aus Führungsspielern erstellt hat, um die herum Thioune seine jungen Talente ausbilden kann. Denn Fakt ist: Ohne Spielzeiten wird das nicht funktionieren. Weder bei David, noch bei Onana, noch bei irgendwem. Wie oben unter Punkt 8 aufgeführt, fehlte dem HSV genau dieser stabile Kader, um junge Spieler reinzuwerfen. Jetzt hat man sie, wie auch Boldt und Co. nicht müde werden zu erklären. Fazit: Die Basis ist da – jetzt kommt’s auf Thioune an.

In diesem Sinne, beim Training heute waren bis auf die Nationalspieler Klaus Gjasula und Josha Vagnoman sowie Jan Gyamerah (Oberschenkel) alle Profis dabei. Auch die zuletzt angeschlagenen Terodde, Ewerton und Hunt. Morgen wird zweimal trainiert – und ich melde mich zwar am Morgen mit dem MorningCall um 7.30 Uhr sowie am Nachmittag mit dem Community Talk, aber den Blog schreibt ein Kollege. Und ich freue mich darauf. Bis morgen also!

Scholle

FAQs

 
 

Über uns

Die Rautenperle - das ist ein Team aus jungen Medienschaffenden und Sportjournalisten mit großer Affinität zum HSV. Wir sind 24/7 bei den Rothosen am Ball und produzieren frischen Content für Rautenliebhaber.

Unser Ziel ist es, moderne, unabhängige Berichterstattung und attraktiven, journalistischen Content für junge und jung gebliebene HSV-Anhänger zu bieten. Wichtig ist uns dabei, eine neue Art des Sportjournalismus zu präsentieren: dynamisch, zeitgemäß, zielgruppengerecht. Weg von verstaubten Zeitungsspalten und immergleichen Phrasen.

Die Rautenperle ist aber nicht nur ein Ort, um sich zu informieren, sondern soll auch immer ein Ort des Austausches und des Miteinanders sein. Wir wollen eurer Leidenschaft einen Platz im Netz bieten: zum Diskutieren, zum Mitfiebern, zum Mitmachen.