7. September 2019
Sieben Pflichtspiele, sechs Siege, ein Unentschieden: Regionalligist Rot-Weiss Essen hat einen Bilderbuch-Start in die neue Saison hingelegt. 11.000 Zuschauer an der Hafenstraße sahen am Freitag einen hochverdienten 2:1-Erfolg von RWE im Niederrheinpokal gegen Drittligist KFC Uerdingen. In Essen im Ruhrgebiet ist die Euphorie zurückgekehrt. Einem Mann wird dafür entscheidende Bedeutung zugemessen: Ex-HSV-Trainer Christian Titz. Der Sympathieträger und Menschenfänger hat Essen im Sturm erobert. Ein Risiko bleibt dennoch.
Es war der 20. September 2018, als Christian Titz am Sky-Mikrofon auf heftige Kritik an seiner Person reagieren musste. „Dieser Trainer ist menschlich ein Desaster“, hatte Ex-HSV-Verteidiger Mergim Mavraj über Titz in der BILD-Zeitung verlauten lassen und damit einen Vorwurf getätigt, der in Bezug auf Titz - zumindest öffentlich - bislang einmalig geblieben ist. Denn ansonsten flogen dem 48-Jährigen in Hamburg die Herzen der Fans nur so zu, die ihn kurzerhand „Big Titz“ tauften und T-Shirts mit seinem Konterfrei bedrucken ließen. In der Anfangszeit spielten die Hamburger attraktiv und begeisterten. „Es ist das erste Mal seit ich hier bin, dass wir Fußball spielen“, lobte Titz-Schützling und der damalige HSV-Mittelfeldspieler Lewis Holtby. Titz hatte zwar den erstmaligen Abstieg des HSV aus der Bundesliga nicht verhindern können, dem krisengeschüttelten Verein aber Lösungsansätze und Hoffnung verliehen.
„Er ist ein junger Mann, der offensichtlich in der Ehre gekränkt war, weil wir ihm ausführlich erklärt haben, dass wir seine sportlichen Dienste für das was wir spielen, in der Art nicht benötigen“, sagte Titz damals auf die Mavraj-Kritik. Diese Reaktion ist nun knapp ein Jahr her. Und Titz, mittlerweile Trainer von Rot-Weiss Essen, hat auch im Ruhrpott einen Traditionsverein in Wallung und versetzt. Negative Äußerungen bezüglich seines Charakters? Fehlanzeige. Ganz im Gegenteil. Bei den sportlichen Ergebnissen und der Euphorie im gesamten Umfeld von Rot-Weiss Essen ist das auch nicht sonderlich verwunderlich: Sieben Pflichtspiele, keine einzige Pleite - die Bilanz ist nahezu makellos.
Darunter fulminante Siege wie der 3:0-Auswärtserfolg im Derby bei Rot-Weiß Oberhausen oder der hochverdiente 2:1-Sieg im Niederrheinpokal gegen Drittligist KFC Uerdingen. Und während es die Zuschauer an der Hafenstraße schon seit dem ersten Spieltag und dem Last-Minute-Erfolg über die zweite Mannschaft von Borussia Dortmund nicht mehr auf den Sitzen hält, predigt einer gebetsmühlenartig: „Wir befinden uns in einem fortlaufenden Prozess. Wichtig ist, dass wir auch zusammenhalten, wenn es mal nichts so läuft. Solche Phasen gehören im Fußball immer dazu.“ Christian Titz - so ist er nun einmal. Doch aktuell ist klar: Gemeinsam mit seinem Team und den Verantwortlichen bei RWE hat er diesen Traditionsklub, der über die Jahre nahezu in der Bedeutungslosigkeit verschwunden war, wieder wachgeküsst.
Selbiges schaffte er auch vorübergehend beim HSV, danach folgte jedoch der Einbruch und das Aus auf Tabellenplatz vier in der zweiten Liga. Intern waren Verantwortliche schon vor der vergangenen Saison nicht überzeugt vom Weg mit dem Fußballlehrer und Buchautor - dazu zählten unter anderem der Vorstandsvorsitzende Bernd Hoffmann und später auch der Sport-Vorstand Ralf Becker, der Titz nach Klatschen wie dem 0:5 zuhause gegen Regensburg nicht den Rücken stärkte und später - unter anderem auf Raten von Bernd Hoffmann - entließ. Geduld mit Titz? Die gab es nicht.
Es ist gut eine Woche her, als ich persönlich das Vergnügen hatte, Christian Titz im beruflichen Kontext zu treffen. Wir zeichneten gemeinsam eine Podcast-Folge „fußball inside“ auf. Und während meine Kollegen bei FUNKE Sport, Martin Herms und Krystian Wozniak, mit langer Hose und Hemd bei 39 Grad auftauchten, hatten Titz und meine Wenigkeit eine bessere Idee: Wir teilen nicht nur den gleichen Vornamen, sondern hatten an diesem Tag auch beide eine kurze Hose an. Für manche vielleicht unpassend, für uns da aber genau richtig. Die gemeinsame Ebene stimmte von Beginn an.
Ich fragte ihn gleich zu Beginn, ob man mit ihm einfach nur Geduld haben müsse und sich der Erfolg dann von alleine einstellen würde. Seine Antwort - wie konnte ich es anders erwarten - gewohnt diplomatisch und sachlich: „Ich glaube, dass das gar nicht mit mir persönlich zu tun hat. Ich glaube, dass das grundsätzlich im Fußball wichtig ist, dass man weiß, dass es ein Prozess ist, eine Mannschaft aufzubauen. Das funktioniert nicht in zwei Wochen, die ersten Schritte sind nach drei bis sechs Monaten erst gemacht. Wenn du als Verein dauerhaft erfolgreich sein möchtest, dann brauchst du für dich eine Spielidee und eine Strategie. Danach suchst du dir die Person als Trainer aus. Wenn du die Person gefunden hast, dann weiß man ja schon da, dass man sich für den richtigen Mann entschieden hat. Es ist dann eine Frage der Zeit.“
Aus der Fankurve bei Rot-Weiss Essen ist momentan ein Tenor vorzufinden, den es eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr gegeben hat: „Es macht endlich wieder Spaß, Spiele an der Hafenstraße zu sehen“, sagen die meisten Fans. Titz gewinnt mit seiner Mannschaft am laufenden Band, beweist mit seinen Einwechslungen fast immer ein goldenes Händchen und liest die Spiele damit bislang hervorragend. Seine Spielweise hat er nicht verändert. Vom risikobehafteten Aufbauspiel über den weit aufgerückten Torwart im Verbund mit einem defensiven Mittelfeldspieler, der nach dem Anspiel aufdreht, ist Titz nicht abgerückt. Das ist sein Weg - und von dem ist er bedingungslos überzeugt. Alle diese Aspekte erinnern an seine Trainerzeit beim HSV. Droht also auch in Essen ein unrühmliches Ende?
Das ist hypothetisch und aktuell nicht gewissenhaft zu beantworten. Klar ist nur: Mit Titz bleibt immer auch das Risiko, dass seine Mannschaft bei zu vielen Fehlern mit dieser Spielweise schnell in einen Negativtrend rutschen kann. Doch in Essen sind die Verantwortlichen - anders als damals beim HSV - bedingungslos überzeugt, mit Titz den richtigen Mann für die sportliche Zukunft des Vereins gefunden zu haben. Ja, manchmal hat er den Hang, seine Spieler und auch die Öffentlichkeit mit taktischen Analysen und seinen Worten zu überfrachten. Gerade im Pott, wo die Anmutung der Sprache auch mal auf den Punkt ist, verstehen nicht immer alle Fans, was Titz auf Pressekonferenzen oder in Interviews versucht, zu erklären. Aber das müssen sie auch gar nicht: So lange es am Wochenende mit Bratwurst und Bier im Stadion Spaß macht, die Mannschaft spielen zu sehen, ist das alles egal. Menschliche Vorwürfe, wie den von Mergim Mavraj, hat es in Essen bisher nicht in Bezug auf Titz gegeben. Ganz im Gegenteil. Auch im Ruhrgebiet ist der 48-jährige Familienvater zum beliebten Menschenfänger geworden.