6. Juli 2020
Dass Schleswig-Holstein noch zu einem großen Teil mit HSV-Fans versehen ist, ist bekannt. Auch mir. Dennoch überrascht es mich, wie oft ich in den letzten Tagen an der Ostsee darauf angesprochen wurde, wie es denn nun beim HSV weitergehen würde. Dabei war stets der tiefe Frust zu erkennen, der so kurz nach dem erneut verpassten Wiederaufstieg nur allzu nachvollziehbar ist. Aber es ist auch auffällig, wie realistisch die Fans den HSV sehen. Tenor von außen: Bitte nicht so weitermachen, wie bisher. Und diese Haltung bezieht sich weniger auf das aktuelle Personal an sich, denn vielmehr auf die Außendarstellung des HSV.
Die allermeisten wollen eben nicht mehr hören, dass der HSV eigentlich nur in die Zweite Liga verunfallt ist und in die Erste Liga gehört. Sie wollen statt erneuter, hochtrabender Zielauslobungen (Boldt: „In Hamburg ist alles andere als ein Aufstieg als Ziel schwer vermittelbar“) viel lieber eine Idee erkennen, wie sich dieser HSV endlich gesund aufstellt. Sie wollen sehen, wie sich der HSV stabilisiert, um nicht weiter erfolglos seinen Zielen hinterherzulaufen, den Frust weiter anwachsen zu lassen und am Ende vielleicht auch noch wie die mahnenden Beispiele 1860 München oder Kaiserslautern zu enden. Der HSV soll sich komplett neu aufstellen. Auch in der strategischen Ausrichtung. Und dafür hat er mit der heute bekanntgegebenen Trainerverpflichtung von Daniel Thioune eine ersten, sehr interessanten Schritt gemacht.
Der 45 Jahre junge Thioune wechselt vom VfL Osnabrück zum HSV und unterschrieb dem Vernehmen nach einen Zweijahresvertrag. Ein Schritt, den man auch vor der abgelaufenen Saison hätte gehen können. Damals wie heute hatte der HSV Gespräche mit Thioune geführt – womit ich überhaupt nichts gegen Dieter Hecking als Trainer sagen will. Aber Fakt ist: Die Wahl Heckings war seinerzeit auch die Festlegung darauf, auf einen im Ligavergleich nominell erfahrenen, teuren und gestandenen Kader zu setzen, der aufsteigen muss. Denn Hecking ist weniger der Typ Entwickler, als der erfahrene Moderator, den er hier im Laufe der letzten Saison auch immer wieder sein musste und war. Nein, Hecking hat tatsächlich das gemacht, was er machen sollte. Letztlich nicht erfolgreich genug – und daher war die Trennung auch ein absolut nachvollziehbarer Schritt.
Wichtiger als alles das ist mir allerdings, was auch sehr viele Fans wollen: Dass sich der HSV endlich von seinem überheblichen Gehabe löst . Mit Hauptsponsor Emirates und Klaus Michael Kühne gehen jetzt auch noch die größten Geldgeber von Bord und zwingen Sportvostand Jonas Boldt und Co. zum Umdenken, oder zu einer „Kurskorrektur“, wie Boldt das nannte, was der Fußballgott dem HSV in den letzten Jahren immer wieder per Wink mit dem Zaunpfahl angedeutet hatte. Aktuell muss man wohl schon davon sprechen, dass der Fußballgott dem HSV diesen Zaunpfahl schon glatt über den Schädel zieht, damit der Weg der Neuausrichtung endlich nicht mehr geleugnet werden kann.
Es ist tatsächlich zwingend erforderlich, dass sich Boldt und Co. jetzt neu positionieren - in aller Deutlichkeit und vor allem mit Nachhaltigkeit. Die Trainerwahl ist da schon der erste Fingerzeig. Statt des Top-Kader-Verwalters Hecking mit gestandenen Profis setzt der HSV künftig auf Top-Spieler-Entwickler Daniel Thioune. Gegnüber der Vorsaison eine 180-Grad-Wende. Schon vor der Saison 2019/20 war Thioune (ebenso wie Grammozis) vom damaligen Sportchef Ralf Becker angesprochen worden – intern aber abgelehnt worden. Beim HSV setzten die Verantwortlichen um Vorstandsboss Bernd Hoffmann und Vereinspräsident Marcell Jansen stattdessen mit Jonas Boldt auf einen neuen Sportchef und dieser wiederum auf den erfahrenen Hecking anstelle der Trainer-Youngster. „Die Rahmenbedingungen haben sich in den letzten Wochen noch einmal verändert“, gab Jonas Boldt heute auf der Vorstellungs-PK von Thioune zu. „Wir müssen unseren Kurs anpassen und mehr Wert auf das Wort ‚Entwicklung‘ legen. Uns wurde zuletzt immer klarer, dass wir uns anders ausrichten müssen. Wir wollen die Entwicklung in den Fokus stellen - und das verkörpert Daniel mit Haut und Haar.“
Oder anders formuliert: Der HSV wird zu seinem Glück gezwungen. Glaube ich. Denn nach Jahren der Talentdebatten hier im Blog, die einige von Euch ob des immer gleichen Inhaltes sicher schon genervt haben, scheint der Weg über Entwicklung statt teurer Einkäufe alternativlos zu werden für den HSV. Der HSV wird sozusagen zu seinem Glück gezwungen. Behaupte ich. Und Thioune soll zum Chefentwickler werden. Eine von der Konstellation her sehr charmante Lösung, finde ich. Denn Thioune gilt als junger, moderner, mannschaftsnaher Typ, der viel über mannschaftliche Geschlossenheit löst. Und ich kann nur hoffen, dass die HSV-Verantwortlichen ihren neuen Trainer nicht nur verbal das Mandat für Entwicklung erteilen, sondern dafür auch alle Voraussetzungen schaffen. Dass der ehemalige HSV-Trainer Dieter Hecking seinem Nachfolger eine schwere Zeit attestiert, sollte diesem nicht als Last anheften – sondern entschuldigend wirken und uns alle dafür sensibilisieren, dass Geduld in diesem Fall tatsächlich unabdingbar ist. So, wie es auch Thioune heute in seiner wirklich sehr gelungenen Antritts-Pressekonferenz deutlich machte.
Thioune wirkte dabei so, wie man sich einen jungen, aufstrebenden Trainer für seinen Verein wünscht: Voller Tatendrang, hochmotiviert, wissbegierig und ehrgeizig auf den nächsten Erfolg bzw. auch den nächsten Schritt für sich selbst. „Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, als Trainer nach dem Maximum zu streben“, sagte Thioune heute und verriet, wie die Gespräche mit dem HSV abliefen und dass vor allem er habe überzeugen müssen: „ich habe mich schon über einen längeren Zeitraum mit dem HSV beschäftigt. Da gab es immer wieder Berührungspunkte. Aber die letzten Tage ist das etwas dynamischer geworden. Ich habe zum Wochenende hin erste Kontakte mit Jonas Boldt gehabt, wir hatten sehr gute Gespräche. Da ging es nicht darum, dass man mich überzeugen musste, sondern dass ich die Überzeugung hatte, dass ich die richtige Wahl sein kann. Ich bin jemand, der vorankommen möchte und der ambitioniert ist. Die Zeit ist gekommen, sich zu verändern und sich zu verabschieden. Ich weiß, dass da eine Riesenchance beim HSV ist für mich.“ Was genau er damit meinte, verriet Thioune auch. Man müsse aufhören immer nur Ziele zu formulieren und anfangen, Ziele umzusetzen. Seine klare Ansage: „Wir müssen tun – und nicht nur wollen.“
Welche Ziele Thioune mit dem HSV hat? „Dass der HSV zurück in die Bundesliga möchte, weiß jeder. Aber davon zu reden, bringt uns den Zielen nicht näher. Ich werde vom ersten Tag an mit meinem Team hart daran arbeiten, dass sich alle Spieler weiterentwickeln und wir erfolgreich Fußball spielen.“ Vor allem aber wolle er in Hamburg eine Leistungskultur schaffen, in der ein gewisses Fehlermaß akzeptiert wird, ohne Dinge schönzureden.
Was ich ebenfalls noch besonders interessant und gut an der Wahl Thioune finde (das wäre bei Grammozis allerdings nicht anders gewesen): Er weiß, was das Zweitligaschwergewicht HSV zuletzt schwerfällig und leicht auszurechnen gemacht hat. Zweimal konnte er mit dem VfL Osnabrück dem HSV Punkte abnehmen. Heute verriet er, wie. Stets darauf bedacht, seinem Vorgänger Hecking nicht zu nahe zu treten, erklärte er, was viele vermutet haben: Dass es den Gegnern leichtfiel, die mentale Anfälligkeit des HSV für sich zu nutzen. Ein Umstand, der sich ob der neuen Ausrichtung schon einmal ein wenig verändert – den Thioune aber in den nächsten Wochen und Monaten auf seine Art und Weise noch angehen muss.
Vorstellungs-Pk’s wie die heutige sind interessant – aber auch nicht überzubewerten. Was von der PK für mich hängenbleibt? Dass Thioune fest von den Rahmenbedingungen beim HSV überzeugt ist und dass er wortgewandt ist. Er mag das Wort „brutal“ sehr gern und geht Inhaltlich davon aus, mit dem HSV das Spiel machen zu müssen. Er hat keine Probleme, mit Leihspielern zu arbeiten und will Talente an die Liga heranführen sowie arriviertere Spieler noch einmal besser machen. Thioune sprach von Spielern wie Dudzak, Kinsombi und Kittel, die noch einen Schritt gehen können und es läge jetzt an ihm, diese Balance in der Mannschaft zu finden, um vom Talent bis zum Kapitän Aaron Hunt noch einmal alle besser zu machen.
Thioune machte dabei einen ausgesprochen sympathischen Eindruck, der ihm so auch schon aus Osnabrück vorauseilt: An der Bremer Brücke gilt der 45-Jährige Ex-Profi als Teamplayer, der nah an der Mannschaft sein will und die mannschaftliche Geschlossenheit als wesentlichen Erfolgsfaktor in der Zweiten Liga sieht. Thioune sagte, er sei vielleicht noch etwas mehr Spieler als Trainer, er betonte aber zugleich: „Die Vertrauensbasis hier ist gegeben, der Ist-Zustand ist gut. Hier ist einiges in den letzten Monaten gewachsen. Das Fundament ist da. Das Maß an Bereitschaft ist da. Es liegt jetzt an mir, das zu entwickeln.“ Und dann sagte er noch einen für mich sehr wichtigen Satz, in dem ich nur gern das „Vielleicht“ weglassen würde : „Vielleicht sieht es für den Moment so aus, einen Schritt zurück zu gehen – vielleicht nehmen wir aber nur Anlauf.“ Zudem betonte er, dass er darauf achten werde, dass sich der HSV endlich als Zweitligist empfindet und so mental eine Augenhöhe zu den Konkurrenten herstellt, die den Spielern im Ergebnis auch Druck von den Schultern nimmt.
Aber seht und hört selbst! Ich stelle Euch die Pressekonferenz mit dem neuen Trainer hier an dieser Stelle noch einmal rein, damit auch Ihr Euch Euer Bild machen könnt. Und völlig losgelöst von den Beweggründen dafür freu ich mich, dass der HSV endlich den Weg geht, auf Entwicklung zu setzen. Er ist überfällig. Rechne ich dann noch Thiounes ersten Eindruck hinzu, kann ich sehr gut verstehen, weshalb hier die ersten Reaktionen davon sprachen, dass man wieder Bock auf die neue Saison hat. So schnell kann das manchmal gehen...
Schnell geht es auch in Sachen Gerüchteküche. Die ganzen Personalspekulationen bewahre ich mich noch auf. Das ist momentan geradezu inflationär. Von Funktionären über Innenverteidiger bis zu Millionen-Stürmern wie Terodde wurde dem HSV allein heute schon alles angeheftet, was so auf dem Markt ist. Sobald sich hier aus einer Spekulation ein konkreter Vorgang entwickelt, melde ich mich damit bei Euch. Vorher nicht.
In diesem Sinne, bis morgen!
Scholle