25. Juli 2020
Für viele Eltern klingt das alles erst einmal richtig gut. Sogar richtiggehend vernünftig. Wenn die Profiklubs um die größten Talente kämpfen und dabei Plätze in ihren Nachwuchsleistungszentren feilbieten, wird den abgebenden Eltern in den blumigsten Arten dargestellt, wie vollumfänglich die Ausbildung der Klubs inzwischen ist. Dem Fußballtraining nachrangig werden die heranwachsenden Stars von morgen bei ihren Schulaufgaben begleitet und unterstützt. Sie bekommen Nachhilfe, sofern nötig. Und sie sollen auch sonst auf alle Lebensabschnitte vorbereitet werden. Soweit die Philosophie der allermeisten NLZs in Deutschland. In der Praxis aber sieht es oft anders aus. Denn letztlich haben die Internate weniger die intellektuelle und soziologische Ausbildung im Vordergrund, denn die Ausbildung künftiger Topstars. Und, Achtung Spoiler: Es funktioniert. Beim HSV wie anderswo.
Hier in Hamburg soll es bei Jonathan Tah so gewesen sein. Bei Bayer Leverkusen mit Weltklassetalent Kai Havertz soll es ebenso wie bei anderen Klubs mit eben solchen Toptalenten noch deutlich drastischer gewesen sein. 12 Millionen Euro gab es letztlich für den HSV beim Transfer Tahs zu Bayer Leverkusen. Und die Leverkusenern, stehen dem vernehmen nach kurz vor dem Verkauf von Havertz für geschätzte 100 Millionen Euro an den FC Chelsea. Geld, das im Nachgang zumindest klubintern alle Nachsicht bei noch so schlimmen Verfehlungen rechtfertigt. Mehr noch: Die Verantwortlichen, die die Talente vor ihren Suspendierungen schützten, werden im Nachgang nicht selten dafür gefeiert. Wobei ich hier betonen möchte, dass man kein NLZ in Deutschland und anderswo davon ausnehmen sollte. Am Ende ist Fußball nämlich auf Profiebene überall gleich: Es ist ein Geschäft. Nichts sonst.
Ich habe einen ehemaligen Klassenkameraden, der sich als pädagogischer Betreuer um derartige Toptalente kümmert. Noch. Denn dieser Job ist Sisyphusarbeit, wie er mir gegenüber klagt. Und das von Hamburg bis Freiburg gleichermaßen. Auf Ebene der Junioren-Bundesligen tauschen sich hier die Mitarbeiter ebenso wie die Spieler miteinander aus. Und die Geschichten, die erzählt werden, sind krass. Denn die Jungs sind auch nicht anders als wir. Ein paar wenige Streber hat jeder – aber eben auch die Jungs, die sich und ihre Grenzen ausprobieren. Illegales Autofahren ist dabei inzwischen schon ein Klassiker. Das ist schon fast Usus. Das wird sogar kaum noch sanktioniert. Denn in den meisten NLZs zählt nur noch folgende Formel: Je größer das Talent des Spielers, desto mehr darf sich dieser Spieler auch erlauben. Der erzieherischere Faktor dabei ist gleich Null. Im Gegenteil: In solchen Fällen schalten sich nicht selten plötzlich die Vorstände der Klubs ein. Sie widersprechen den Ratschlägen der Pädagogen und versuchen, Themen zu verheimlichen bzw. zumindest möglichst klein zu halten.
Das eigentliche Problem hierbei ist, dass den Spielern suggeriert wird, dass ihre fußballerischen Fähigkeiten sie besonders macht. Das hilft zwar in Sachen Selbstvertrauen – was gut ist. Es lässt sie aber nicht selten den Blick für das Normale verlieren – was fatal ist. Diese Jungs werden schlichtweg verzogen. In ihren lehrreichsten Jahren auf dem Weg zum Erwachsensein bekommen sie suggeriert, dass sie sich ob ihres fußballerischen Könnens Dinge erlauben dürfen, die bei anderen Gleichaltrigen zu drastischen Strafen führen.
Und der Hintergrund hierfür ist aus Klubsicht ebenso geschäftstüchtig gedacht, wie aus pädagogischer Sicht verheerend: Es geht ums Geld. Denn während wir beim HSV immer davon sprechen, dass Wille das Talent schlägt, schlägt hier die Aussicht auf einen hohen Marktwert alles andere. Selbst auf die allerübelsten Verfehlungen reagieren nur die allerwenigsten Klubs mit Rauswurf. Erzählt wird von Spielerberatern, die mit Geldzahlungen Strafanzeigen gegen ihre Mandanten verhinderten. Und wenn diesen Spielern von Vereinsseite eine große fußballerische Zukunft vorausgesagt wird, haben sie einen mächtigen Schutzpatron.
Mit anderen Worten: Die NLZs sind fußballerisch ein Wohl – pädagogisch aber zu oft eine Katastrophe fürs Erwachsenwerden der künftigen Profis. Allein nach der NLZ-Zeit stürzen diese Spieler zu oft ab, wenn ihre Klubs plötzlich kein besonderes Interesse mehr an ihnen haben. Diesen Spielern wurde die Selbständigkeit quasi aberzogen - umso mehr freue ich mich heutzutage über Spieler, die erwachsen sind. Spieler, die mitten im Leben stehen und auch mal den Mund aufmachen, ohne dabei über PS4, teure Autos oder Geld zu schwadronieren. Solche Leute wie Christoph Moritz zum Beispiel. Daher gestattet mir bitte heute aus aktuellem Anlass noch ein paar Worte in eigener Sache zum Abschluss:
Wenn ich lese, auf welche Botschaft meine Kollegen gestern den Blog über und mit Christoph Moritz herunterbrechen, muss ich mich ehrlich fragen, wohin sowas führen soll. Er würde „nachtreten“, „pesten“, und mit dem Trainer „abrechnen“. Im Ernst? Dass er vor allem Probleme benannt hat, die ob seiner Schilderungen auch rückwirkend zu erkennen sind, wird nicht genannt. Dass er respektvoll Zusammenhänge erläutert und deutlich macht, dass es ihm ganz bewusst und betont nicht allein um sich selbst oder um den Trainer ging – es wird zur Seite geschoben. So wird ein grundsätzliches Problem auf zwei Leute (Moritz/Hecking) kapriziert, das beim HSV seit vielen Jahren immer wieder zum Scheitern führt: fehlende Empathie und fehlende Nähe von Führung und Mannschaft.
Auch unser sehr geschätzter Gastautor Dr. Olaf Ringelband hat hier große Probleme beim HSV ausgemacht. Denn zu oft wurde in den letzten Jahren zu viel Geld an Spieler gezahlt und daraus ein Anspruch abgeleitet, der die Trainer zu schnell aus der Verantwortung nahm und einige Spieler überforderte. Was ich meine: Zu oft haben die Trainer bei den Spielern ob der Bezahlungen zu viel vorausgesetzt. Dieter Hecking ist da keine Ausnahme. Und glaubt wirklich irgendjemand, dass einem Hecking nicht schon gesagt wurde, wie sich das Bild in der Kabine in den letzten Monaten der Saison darstellte? Nein, das alles ist intern bekannt.
Es war sogar ein Teil der Fehleranalyse die im Anschluss an die Saison mit allen Beteiligten gemacht worden war. Und nur, weil Moritz öffentlich sagt, wie es für einen Teil der Mannschaft war, macht ihn das lange nicht zu dem, was meine Kollegen mit ihren Überschriften suggeriert haben. Denn er hat nicht nachgetreten, sondern offensichtlich nur die Wahrheit gesagt. Die ist in diesem Fall sehr kritisch – aber interessanterweise hat Hecking selbst damit offenbar am allerwenigsten Probleme…
Womit ich noch ein grundlegendes Problem ansprechen will: Fehlende meinungsstarke HSV-Profis, die auf dem Platz und eben auch in der Kabine Verantwortung übernehmen. Die wird den heranwachsenden Profis in den Nachwuchsleistungszentren unter Androhung von Konsequenzen aberzogen. Einige sprechen von einer Form der Gehirnwäsche. Andere sprechen von Fußballern wiederspiegelt, denen jede Führungsqualität fehlt. Wieder andere fordern einfach nur „endlich wieder Typen wie früher Effenberg, Keane und Co.“.
Auch die Zeitungen, also auch wir Journalisten, fordern immer wieder diese „echten Typen“, die so selten geworden sind wie Trainer beim HSV, die mehr als eine Saison bleiben. Und auch wir vertreiben diese seltene Spezies Profifußballer mit derlei Berichterstattung. Oder was glaubt ihr, was Spieler in Hamburg in Zukunft machen, wenn sie mitbekommen, dass mutigen Aussagen auf die öffentliche Schlachtbank führen? Logisch: Damit werden selbst die vertrieben, die nicht schon durch NLZs verkorkst wurden. So schaffen wir es auf Sicht tatsächlich, auch die letzten noch selbständig denkenden Fußballer zu vertreiben.
Inhaltlich kritisch und objektive Berichterstattung geht auf jeden Fall anders. Denn auch wenn bei allen Kollegen in den Artikeln selbst die kritischen Worte Moritz’ in keinster Weise angezweifelt sondern als inhaltlich korrekt angesehen werden, sollen die bewusst reißerisch gewählten Überschriften mehr provozieren als tatsächlich den Inhalt zusammenfassen. Traurig. Aber es ist ein Trend, der den Fußball immer mehr zu einem surrealen Kunstobjekt mit zunehmend unreifen, unselbständigen Spieler werden lässt. Angefangen in der Ausbildungszeit bis hin zum Profispiel auf dem Platz…
In diesem Sinne, bis morgen! Da melde ich mich am Abend wieder bei Euch. Thema dann wird die Kaderplanung sein. Und eine erfreuliche Ausnahme des eben hier Geschilderten...
Bis dahin,
Scholle