Marcus Scholz

29. April 2020

Ich weiß, dass der Fußball sehr vielen Menschen in Deutschland (und anderswo) sehr fehlt. Mir sicherlich mit am meisten, behaupte ich! Und ich weiß auch, dass der Fußball sehr viele Arbeitsplätze hinter sich herzieht, die es auch tatsächlich allesamt zu erhalten gilt. So, wie es bundesweit überall und in allen Wirtschaftszweigen versucht werden muss. Aber ich hatte es gestern im Blog schon angedeutet, und ich bin weiterhin nicht überzeugt, dass diese Saison wirklich bald aufgenommen und beendet werden kann. Und das aus den unterschiedlichsten Gründen. Deshalb versuche ich einen Tag vor der nächsten Entscheidung seitens Bundesministerinnen und -minister die Szenerie, die auch hier zunehmend ins polemische abzudriften droht, einzuordnen. Denn ich glaube, dass uns etwas mehr Sachlichkeit allen gut zu Gesicht steht bei einem solch wichtigen Thema.

Gestern bei Markus Lanz saß neben Hans-Joachim Witzke auch Prof. Michael Meyer-Hermann, ein Systembiologe und Modellierer am Braunschweiger Helmholtz-Zentrum, im Studio. Die Fragen, die unter anderem groß diskutiert wurden: Wieso sollten Fußballprofis bis zu zweimal pro Woche auf eine Corona-Infektion getestet werden, wenn dies weder Krankenpersonal noch Lehrern möglich ist? Wie erklärt man es Amateur- und Jugendmannschaften, dass sie nicht spielen dürfen, dafür aber die großen Vereine? Warnkes Antwort: „Der große Unterschied ist, dass es für die einen ein Beruf ist. Die Bundesliga ist ein Wirtschaftszweig. Ähnlich wie VW jetzt wieder den Betrieb aufnimmt, muss auch die Bundesliga wieder losgehen“, so der Fußballmanager. Ein Argument, das zieht - allerdings gibt es auf der anderen Seite nicht weniger Gegenargumente, wie Prof. Meyer-Hermann schnell und klar erwidern konnte.

Ultras dementierten Proteste vor Stadien

„Wir sollten nicht in diese Phase kommen, in der wir auf ewig die Kontaktbeschränkung brauchen. Wir müssen die Fallzahlen so weit runterbringen, dass wir nur so wenige Fälle übrig haben, dass wir sie kontrollieren können“, so der Biologe bei Lanz. Durch Tracing (hier Rückverfolgen der Ansteckungskette, d. Red.) könne die Infektionsketten „im Keim“ erstickt werden. Und für dieses Ziel sei eine Kontaktbeschränkung weiterhin vonnöten. Vermutlich durch das Osterwochenende habe sich der Reproduktionsfaktor leicht erhöht - die Folgen der Ladenöffnungen vor rund einer Woche seien noch nicht absehbar, so der Biologe weiter. Aber diese Zahlen werden kommen. Und wenn diese, wie Meyer-Herman vermutet, wieder ansteigende Tendenz haben werden, wird es auch für den Fußball wieder ganz eng. Selbst wenn es dabei um 750 Millionen Euro TV-Gelder geht.

Wirtschaft vs. Viruseindämmung - so wird aktuell argumentiert, wenn es um Öffnungen von Geschäften und andere Lockerungen geht. Auch beim Fußball ist die Diskussion längst kontrovers und scheinbar für keine Seite gänzlich bau gewinnen. Die Ultra-Gruppierungen protestieren dabei schon seit Wochen in Stellungnahmen gegen die Wiederaufnahme der Bundesligasaison und Geisterspiele. Und wohlgemerkt: Ich schreibe diesen Artikel, bevor wir uns gleich im ersten virtuellen „Tankstellen-Talk meets Rautenperle“ über dieses Thema ausgetauscht haben. Aber auch hier passiert, was einfach zu oft passiert: Es wird pauschalisiert. Ultras werden mit Unvernunft gleichgesetzt und sind per se Pyro-Befürworter. Dabei kann ich aus eigener,  beruflicher Erfahrung behaupten, dass das absoluter Nonsens ist.  Ich habe mich heute mit zwei bekannten Ultras unterhalten, die sich zu diesem Thema nicht laut äußern wollen, um sich nicht in den Vordergrund zu stellen. Mit den Medien zu sprechen ist bei Ultras auch eher keine Auszeichnung, im Gegenteil. Aber ich zitiere die beiden wechselweise trotzdem, um dem einen oder anderen von Euch vielleicht zu helfen, Vorverurteilungen aufzuheben.

 

Großes Thema ist seit dem Protestbrief der Fanszene Deutschland die Befürchtung, Ultragruppierungen könnten mit Massenaufläufen vor den Stadien versuchen, die Austragung der Spiel zu  verhindern. Und wenn ich meinen Quellen trauen darf, wird das - zumindest beim HSV - definitiv nicht passieren. „Wir wissen um die Bedeutung der Spiele aus finanzieller Sicht. Und wir werden ganz sicher nicht gegen die Austragung der Spiele aus gesellschaftlicher Sicht demonstrieren, um im nächsten Moment diese Gesellschaft selbst durch Regel- und teilweise Gesetzesbrüche einer erhöhten Gefahr in Form von Massenaufläufen zu gefährden“, sagte mir Ultra Nr.1. Er betonte dabei, dass es ihm und den allermeisten überhaupt nicht darum ginge, das Spiel an sich im Stadion nicht miterleben zu dürfen. Es ginge ausschließlich darum, dass auch er es als unverhältnismäßig erachtet. „Unabhängig von der Zugehörigkeit zu Vereinen muss doch spätestens jetzt allen bewusst sein, dass der Fußball in seinen aktuellen Strukturen nicht funktional sein kann, wenn ein paar Wochen eingestellter Spielbetrieb so viele Insolvenzen auslösen“, so Ultra Nr. 2, der seinerseits seit knapp 20 Jahren ein mittelständisches Unternehmen führt, das aktuell quasi ohne Betrieb ist. Er kennt also die Sorgen aus wirtschaftlicher Sicht.

Vollquarantäne als letzte Patrone für Fortsetzung?

Ich werde jetzt nicht noch einmal alle Argumente wiederholen, die wir in den letzten Woche n pro und Contra Wiederaufnahme der Saison aufgeführt haben. Und ich werde es auch Werder den DFL-Verantwortlichen noch den Vereinsfunktionären übel nehmen, wenn sie sich für die Vereine und die darin enthaltenen Mitarbeiter stark machen. Und ehrlich gesagt, wäre ich auch ein bedingungsloser Befürworter der Wiederaufnahme, wenn sich alle Vereine darauf verständigen, die Saison in einem überschaubaren Zeitraum mit Vollquarantäne durchzuziehen. Das mag populistisch klingen - ist es aber tatsächlich nicht. Denn wie viele andere Wissenschaftler auch hat Meyer-Hermann gestern davor gewarnt, dass man das Virus hier zu leicht nehmen würde. Schwer vorstellbar angesichts der vielen Verzichte - auch für mich. Aber wissen wir es besser? Ich nicht.

Wie aber kann Fußball gespielt werden, ohne das wir moralisch Probleme damit haben müssen? Ich glaube: Nur, wenn man wirklich ausnahmslos alles dafür tut, die Gefährdung der Gesellschaft zu minimieren und entsprechend Verzichte, Kosten und Verantwortung übernimmt, nur dann kann es gehen. Ansonsten nicht. Hier kann und darf es keine Kompromisslösungen geben. Denn wenn der Fußball für die Gesellschaft wirklich auch nur im Ansatz so wichtig ist, wie es alle Funktionäre zuletzt betont haben (und wie ich es bis heute dachte), dann muss er auch in diesen schweren Zeiten seiner Vorbildrolle gerecht werden. Deshalb bleibe ich dabei: Wenn die Bundesliga so eine Ausnahme für sich beansprucht, muss sie ALLES dafür tun, den Rest der Gesellschaft in Deutschland dadurch keinen Millimeter mehr zu gefährden als ohne Spielbetrieb. Sollte sie das wirklich gewährleisten können, kann es losgehen. Aber den Beweis, dass sie das garantieren kann, sind bislang noch alle Verantwortlichen Schuldig geblieben. Auch deshalb bin ich sehr gespannt, was morgen an Neuigkeiten vorgetragen wird. Von allen Seiten.

 

Aber bis dahin werden wir dieses Thema auch hier diskutieren. Im ersten „Tankstellen-Talk meets Rautenperle-Talk“ auf youtube. Klickt einfach HIER und seid dabei! Ich melde mich dann morgen wieder bei Euch. Zunächst mit dem MorningCall, später dann auch noch mit dem Tagesblog und dem Quiz am Abend, auf das ich mich schon wieder riesig freue! Bis dahin!

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