Guido Müller

6. Oktober 2020

Die Würfel sind gefallen. Zumindest was die Zugänge von anderen Vereinen betrifft, können deutsche Klubs jetzt nicht mehr zuschlagen. Oder, um es an einem trüben Herbsttag mit Rilke zu sagen: Wer jetzt keinen Kader hat, baut sich keinen mehr. Somit natürlich auch nicht der HSV. Verkäufe sind dagegen in bestimmte Ligen auch über den heutigen Tag hinaus noch möglich. 

Der HSV war diesen Deadline Day genannten letzten Tag der diesjährigen Sommertransferperiode sowieso recht entspannt angegangen. Das konnte er deshalb tun, weil er seine Hausaufgaben schon vorher erledigt hat. War ja in den letzten Jahren auch nicht immer so. Sportvorstand Jonas Boldt wollte bis gestern Vormittag zwar nicht ausschließen, dass noch etwas auf der Kauf-Seite passieren könnte, doch mittlerweile kann ein Haken daran gesetzt werden. 

Nur, wenn sie von irgendeinem Transfer voll überzeugt gewesen wären, hätten sie nochmal gehandelt. Und wenn die ökonomische Seite nicht dagegen gesprochen hätte, vergaß er zu erwähnen. Wobei: das wissen wir ja eh alle. 

Komplett neue Achse

Für den letzten Knalleffekt haben Boldt und sein Team bereits am vergangenen Samstag gesorgt, als die Verpflichtung von Torhüter Sven Ulreich bekannt gegeben wurde.

Die Tatsache mal beiseite gelassen, dass das belgische Talent Amadou Onana dem HSV bereits Anfang des Jahres sein Ja-Wort gegeben hatte, sind seit dem ersten Transfer der Hamburger keine drei Monate vergangen. Mitte Juli wurde Klaus Gjasula, angepriesen als einer der gesuchten “Säulenspieler”, den HSV-Anhängern als Neuzugang vorgestellt. Ablösefrei. 

Dieses Attribut stand allen ersten vier Neuzugängen (Onana eingeschlossen) vor. Für "lau" hatte sich der HSV damit schon vor August-Ende eine komplett neue Achse in die Karosserie eingebaut. Leistner, Gjasula, Onana, Terodde. 

Im September, und nachdem auch Thioune gemerkt hat, dass die Säule Gjasula noch nicht so belastbar ist, wie erwartet (ich betone, als ewiger Optimist, das “noch”), wurde dann der Transfer eingetütet, den viele schon kurz nach Thiounes Präsentation als neuer Chef-Coach im Volkspark erwartet hatten: Moritz Heyer kam von Thiounes Ex-Klub VfL Osnabrück. Für den 25-jährigen Defensiv-Allrounder gaben die Hamburger dann auch zum ersten Mal Geld aus. Wobei ich die 600.000 Euro Ablöse, die an die Bremer Brücke gezahlt wurden, für absolut nicht überteuert und - angesichts der ersten Eindrücke, die ich vom Spieler gewinnen konnte - fast schon als Schnäppchen bezeichnen würde. Wenn ich das mal mit den zwei Millionen vergleiche, die der KSC für Philipp Hofmann aufgerufen hat.

Stürmer sind teurer als Verteidiger? So hieß es früher. Aber die Zeiten des ganz großen Preisgefälles zwischen Offensiv- und Defensivakteuren sind spätestens seit den Transfers von Virgil van Dijk oder Harry Maguire wohl passé. Heißt: man kann auch beim Kauf von Defensivleuten gut über den Tisch gezogen werden. Das ist dem HSV bei Heyer sicherlich nicht passiert.

Die Verpflichtung von Maximilian Rohr von Carl Zeiss Jena ging hingegen ein wenig unter. Wohl auch deshalb, weil der HSV ihn offiziell als Mann für die Zweite Mannschaft vorstellte. Doch immerhin hat Rohr 200.000 Euro gekostet (wobei Jena ursprünglich mal 500.000 für ihn haben wollte). Was recht viel Geld für einen Regionalligisten ist. Und der HSV gehört noch nicht mal zu dem ambitioniertesten Klubs in der vierten Liga. Von daher ist Rohr wohl perspektivisch auch für die erste Mannschaft vorgesehen. 

Die übersichtliche Shopping-Tour wurde dann mit dem spektakulären Deal mit Bayern Münchens Ersatztorwart Sven Ulreich beendet. Für diese Verpflichtung kann man Boldt & Co. nur gratulieren. 

Wie man ihnen überhaupt für die sehr gute Transferperiode gratulieren muss. Nicht nur, dass sich die Kosten in mehr als überschaubaren Rahmen gehalten haben. Auch die Art wie die einzelnen Transfers eingetütet wurden, lässt Hoffnungen zu, dass die Zeit mit den ewigen Indiskretionen aus den Führungsetagen (die bisweilen auch für das Platzen mancher Deals verantwortlich zeichneten) endlich der Vergangenheit angehört. 

In diesem Jahr war es erfrischenderweise immer so, dass ein Name erst dann vom HSV in den Mund genommen wurde, wenn man er medienwirksam der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Selbst das befürchtete Terodde-Theater blieb aus. Zwischen dem Aufkommen erster Gerüchte (auf diese Spielzeit bezogen, denn natürlich war Terodde in den letzten zwei Jahren immer mal im Gespräch) und der Finalisierung des Deals verging kaum mehr als eine Woche. Geräuschlos und effizient - was für Motoren gilt, gilt analog auch für eine gute sportliche Führung.  

Die Transfers nach Mannschaftsteilen

Zusammenfassend will ich die Transfer-Aktivitäten des HSV noch einmal mit schulischen Noten bewerten und teile dafür den Kader in drei ganz grobe Bereiche: Tor, Defensive und Offensive.

Zwischen den Pfosten

Im Gehäuse des HSV gab es spätestens nach dem Pollersbeck-Verkauf dringlichen Handlungsbedarf. Darüber konnten auch die ständigen und eher strategischen Gesichtspunkten geschuldeten Lobeshymnen auf die verbliebenen Torwächter nicht hinwegtäuschen. Und ich freue mich wirklich sehr, dass der HSV am Ende die “große” Option gezogen hat. Das sag ich aus Überzeugung heraus, weil ich Sven Ulreich tatsächlich als überdurchschnittlichen Keeper ansehe. Und zwar auch unabhängig davon, dass er seit fünf Jahren den Reservetorwart beim aktuellen Champions League-Sieger und hiesigen Dauermeister gibt. Ulrich kann auch Nummer 1. Das hat er fünf Jahre lang beim VfB Stuttgart unter Beweis gestellt. 

Mit Ulreich hat der HSV jedenfalls endlich wieder einen Keeper (der letzte war René Adler), dem man zutraut, der Mannschaft auch mal Spiele zu gewinnen. Zudem ist die Torhüter-Position vielleicht auch die wichtigste überhaupt in einem Team. Ausnahmen (wie Brasilien 1970) bestätigen die Regel: ohne guten Torwart gewinnst du weder Ligen noch Turniere. Einzelne Spiele - ja. Aber nichts von Dauer. Dabei halte ich Daniel Heuer Fernandes wirklich nicht für einen schlechten seiner Zunft. Aber das Bessere ist der Feind des Guten. Und wenn man die Möglichkeit hat, sich auf einer neuralgischen Position nicht nur stabiler aufzustellen sondern eindeutig zu verbessern, dann wäre es fahrlässig, es nicht zu tun.

Note Transfers Tor: 1 (14 Punkte)

Die Defensive

In der Defensive (das defensive Mittelfeld zähle ich der Übersichtlichkeit einfach mal hinzu) wurden mit Amadou Onana, Klaus Gjasula, Toni Leistner und Moritz Heyer vier neue Kräfte geholt. Onana hat bereits mehr als angedeutet, eine richtig gute Investition schon für die Gegenwart sein zu können. Für die Zukunft sowieso. Der Mann ist schließlich erst vor kurzem 19 geworden…

Gjasula und Leistner gehören im Vergleich dazu schon fast zu den Oldies. Beide haben bislang eher negative denn positive Schlagzeilen in ihrer neuen sportlichen Heimat geschrieben. Leistner leistete sich den Fauxpas mit einem Dresdner Fan im Anschluss an das traurige Pokal-Desaster bei den Sachsen (bei dem er ebenfalls keine allzu gute Figur machte) einen unerklärlichen Blackout. Eigentlich zwei. Denn schon das Hinaufsteigen auf die von unmaskierten Dynamo-Fans bevölkerte Tribüne war eigentlich ein No-Go. Das am Schlawittchen-Packen eines Anhängers, der sich wohl verbal etwas zu heftig gegenüber Leistner ausgelassen hatte, war dann die Krönung auf das unwürdige Spektakel. Aber gut: seine Strafe hat er bekommen, auch wenn diese mittlerweile auf den Einspruch des Spielers hin modifiziert wurde. Rein sportlich konnte Leistner, der bei den ersten beiden Spielen gegen Fortuna und in Paderborn eben wegen dieser Sperre fehlte, noch nicht weiter in Erscheinung treten. Und das 1:4 im Pokal ist natürlich auch nicht allein an ihm festzumachen.

Kommen wir zu Klaus Gjasula, der bisher noch nicht so richtig angekommen ist. Zuletzt las ich irgendwo, dass er zuviel wolle. Dass er Thioune zeigen wolle, was er alles drauf hat. Mein Rat: Weniger ist manchmal mehr. Wenn er sich in der Zukunft auf das besinnt, was er kann, und im Zweifel erstmal die einfachen Bälle über fünf Meter statt die schwierigen über fünfundzwanzig spielt, habe ich hier noch Hoffnung auf Steigerung. Was Lufthoheit betrifft, dürften wir von ihm auf jeden Fall noch profitieren. 

Rausreißen tut die Transferbilanz im defensiven Bereich der Kauf von Moritz Heyer. Sozusagen die einfache Variante, weil der Trainer ihn von der gemeinsamen vorherigen Station in Osnabrück kannte. Aber einfach muss ja nichts Schlechtes bedeuten. Im Gegenteil: gefühlt ist es ja fast an der Tagesordnung, dass ein Neu-Trainer sich irgendwann, wenn es die Konstellation denn zulässt, seiner alten Spieler erinnert. Und nach der einen oder anderen Niederlage in den Vorbereitungsspielen wurde diese Erinnerung bei Thioune offenbar erneuert. Mit 600.000 Euro kannst du auch nicht soviel falsch machen. Selbst wenn es ein Flop werden sollte - da haben wir in der jüngsten Vergangenheit schon weitaus teurere gehabt. Und nebenbei: Heyer ist kein Flop. Im Gegenteil: ich könnte mir sogar vorstellen, dass er eine Epoche beim HSV prägen wird. 

Note Transfers Defensive: 2 minus (10 Punkte)

Tormaschinerie? Die Offensive

Bleibt die Offensive, in der man sich, was Neuzugänge betrifft, “nur” mit Simon Terodde verstärkt hat. Aber was heißt hier “nur”? Der Mann zwar dreimal Torschützenkönig der Zweiten Liga. Schafft er es ein viertes Mal, hat der HSV auf dieser Position alles richtig gemacht. In die Zukunft kann ich natürlich auch nicht sehen. Vielleicht verletzt er sich morgen im Training und fällt für ein halbes Jahr aus. Aber dieses Risiko haftet jedem Einkauf an. Und man muss ja auch nicht immer vom Schlimmsten ausgehen. Auch wenn das, speziell im Kontext des HSV, wohl leichter gesagt als getan ist. Im Zweifel kann man sich auch auf die objektiven Zahlen stützen. Und die weisen vier Tore nach zwei Spielen für den Torjäger aus. Deshalb gibt es auch in puncto Offensiv-Verstärkungen von mir ein klares Votum:

Note Transfers offensiv: 1 minus (13 Punkte).  

Warum das Minus? Nun, weil die Baustelle offensives Mittelfeld nicht geschlossen wurde. Ja, ich weiß - siehe oben. Entweder war kein Geld da, oder der Spieler, für den man das Geld gehabt hätte, hat nicht überzeugt. Dennoch: ein Aaron Hunt kann einfach nicht mehr über zwanzig Spiele oder mehr das Tempo und die Zweikampfhärte im Unterhaus mitgehen. Und auch ein Jeremy Dudziak wird mal verletzt sein oder in ein Formloch fallen. Dann müsste eine Verlegenheitslösung (Kittel?) ran. Fact ist: für die Position in der zentralen Offensive haben wir keine gleichwertigen Back-ups.

Unterm Strich

Zusammengezählt ergeben die Schulnoten (auf das moderne 15 Punkte-Schulschema runtergebrochen) folgende Noten: 14 (Tor), 10 (Abwehr), 13 (Sturm), was einen abgerundeten Mittelwert von 12 ergibt, der wiederum der klassischen Schulnote 2 plus entspricht. Ergo:

Note Transfers insgesamt: 2 plus (12 Punkte). 

Ein kurzes Wort noch zu den jüngsten Abgängen (sowohl den realisierten als auch den nicht realisierten). Dass sich der HSV nun endlich von Ewerton trennt, halte ich für konsequent. Genügend Chancen hat der Brasilianer bekommen, konnte sie aber allesamt nicht nutzen. Der Königstransfer des letzten Jahres geht als Flop in die Vereinsgeschichte ein. Beim Magath-Klub Würzburg will er nun noch einmal zeigen, was er drauf hat. 

Ein Flop war nach seiner schweren Verletzung 2018 meistens auch Gideon Jung. Dennoch hat sich der 26-Jährige jetzt klar positioniert und will die Herausforderung beim HSV annehmen. Wohl auch, weil die wirklich interessanten Angebote aus England ausblieben. Vielleicht gibt ihm die Rolles des Ersatzspielers ja wieder ein bisschen mehr Ruhe. Persönlich schade finde ich, dass Aaron Opoku es wieder nicht geschafft hat, einen HSV-Cheftrainer von sich zu überzeugen. Eine Leihe nach Regensburg soll ihm nun endlich den Feinschliff beibringen, um sich dann spätestens ab Sommer 2021 um die Plätze im HSV-Sturm zu streiten.

Dass am Ende auch Lukas Hinterseer bleibt, finde ich nicht tragisch. Rein von den Zahlen her, hat er ja in der ersten Saison auch nicht unbedingt enttäuscht. Bei ihm bemängele ich vor allem die fehlende Aggressivität und Explosivität im Pressing. Vielleicht läuft es für ihn jetzt leichter, da die Erwartungshaltungen sich natürlich vor allem auf Terodde konzentrieren werden.  

 

Meine Wunschelf HSV 2020/21: Ulreich - Leibold, Ambrosius, Heyer, Gyamerah - Onana, Gjasula - Kittel, Dudziak, Wintzheimer - Terodde

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