Marcus Scholz

9. Oktober 2019

Seine Eltern wohnen noch immer Luftlinie 200 Meter von mir entfernt. Und auf dem Gummiplatz am Sachsenweg klebt wahrscheinlich noch immer getrocknetes Blut an den Gebüschen von den harten Kämpfen, die wir als Jugendliche mit Stefan Effenberg und einem seiner Freunde gekämpft haben. „Wir zwei gegen den Ramsch“, hieß es damals, als der etwas seltsam anmutende Typ mit dem Buffkopf vom Grandplatz zu uns rüberkam und uns herausforderte. Und wenn wir (wie fast immer dank der personellen Überzahl) führten, rammte uns der groß gewachsene Blondschopf immer wieder brutal ins Gebüsch. Ohne, dass es ein Foul war, wie er forderte.

Dass der Typ ein wenig anders war, wussten wir ja. Zuvor hatte er schon tagelang mit seinem Freund auf Platz 3 am Sachsenweg aufs Tor gebolzt. Er schoss dabei immer wieder aus 16, 20 und 25 Metern – sein Freund stand im Tor und rollte den Ball immer wieder zurück. Wir haben uns sogar schon lustig gemacht. Aber wir haben es irgendwann verstanden, als dieser blonde Junge als Stefan Effenberg dann in Mönchengladbach und später sogar als deutscher Nationalspieler beim FC Bayern in der Bundesliga und der Champions League auf dem Platz stand. Unsere Lehre: Fleiß zahlt sich aus. Oder?

Nicht nur. Denn es gehört immer auch ein ganzes Stück Glück dazu. Man braucht die richtigen Trainer, man muss in den richtigen Mannschaften gut spielen, und in Bestform sein, wenn gerade mal gesichtet wird. Es kann immer dieser eine Moment sein, der den Weg entscheidet.

Effenberg war nur Mitläufer - bis dieser eine, große Moment kam

Bei Effenberg, der in Hamburg zwar Auswahlspieler wurde, dort aber nicht überragte und bei allen als Mitläufer (Ralph Jester und Holger Stanislawski waren die Topspieler) galt, war es ein Länderkampf, also das Sichtungsturnier des DFB. Im richtigen Moment machte er sein bestes Spiel, bereitete Tore vor und traf sogar selbst. Der Hamburger Fußball Verband gewann den Länderkampf damals das erste Mal – und bis heute übrigens auch das letzte Mal. Und während sich die Bundesligisten um seine Teamkameraden prügelten, gefiel er den Scouts Borussia Mönchengladbachs so sehr, dass die Nachwuchsabteilung der Fohlen den Blondschopf vom SC Victoria verpflichtete. Ein Jahr lang bei den Amateuren in der „Zweiten“, dann war „Effe“ bei den Profis dabei. Er wurde dort zwar erst am 17. Spieltag vier Minuten vor Schluss vom inzwischen schon verstorbenen Trainer Wolf Werner eingewechselt. Aber es war sein Durchbruch, der ihn nur drei Jahre danach zum FC Bayern brachte und Titel sammeln ließ.

Obwohl Effenberg in Hamburg nie als Toptalent galt, und ihm hier wirklich niemand diese Karriere zutraute, hatte er es nicht nur geschafft, sich durchzusetzen. Vielmehr startete er eine Weltkarriere. „Ein einziger Moment, der alles verändert hat“, erzählte Effenberg später und wusste, dass er sich bei Gladbachs Scout Werner zu bedanken hatte, der damals beim Länderkampf ein offenbar besseres Auge hatte als zig andere Trainer. Was ich damit sagen will? Ganz einfach: Abgesehen von Ausnahmetalenten wie Messi und Co. sind es nur sehr wenige Momente, die entscheiden. Und ich würde wetten, dass dem einen Effenberg, der es geschafft hat, locker 25 Effenbergs in seinem Jahrgang gegenüberstehen, die es nie nach oben – geschweige denn nach ganz oben geschafft haben. Und das, obwohl sie mindestens genauso gut waren.

Der Bedarf, Talente selbst zu entwickeln, ist größer denn je

Auch beim HSV ist dieses Phänomen zu erkennen. Immer wieder. Aktuell bei Josha Vagnoman, der erst durch die Verletzung von Jan Gyamerah die Chance bekam, sein Talent mal über drei, vier Spiele in Folge zeigen zu können. Mit einem schlechten Start im Derby, zugegeben. Und bei Trainern wie Christian Titz und Hannes Wolf hatte ihn so eine Leistung gleich wieder zurück auf die Bank katapultiert. Aber: Diesmal hatte Vagnoman Glück. Denn sein aktueller Trainer Dieter Hecking setzte weiter auf ihn. Es sei von ihm genau so gewollt gewesen, sagt Hecking heute. „Man muss den Jungs auch in schwierigen Situationen den Rücken stärken und darf nicht gleich im ersten Moment mit der Kritik über sie herfallen“, so Hecking. Aber es war sicher auch der Notsituation um Gyamerahs Ausfall herum geschuldet. Denn mehr gelernte Rechtsverteidiger gibt dieser Kader ansonsten nicht her. „Zum Glück gezwungen“ kann man hier also sagen, aber darauf kommt es auch gar nicht an. Denn Vagnoman ist nur ein gutes Beispiel für: Mut. Denn der hat den HSV-Trainer in den letzten Jahren zumeist gefehlt.

 

Und wie gesagt, auch bei Hecking kann ich beim Einbauen junger Talente noch kein Prinzip erkennen. Kann aber noch kommen. Zumal sich beim HSV mit Jonas David und anderen Talenten durchaus Spieler dafür anbieten. „Josha Vagnoman und Jonas David müssen als Beispiele dafür dienen, dass man jedes Jahr zwei Spieler aus dem Nachwuchs an die Profi-Mannschaft heranführt“, hatte Vorstandsboss Bernd Hoffmann heute im BILD-Interview gefordert und zuvor deutlich gemacht, dass dem HSV aktuell kein anderer Weg als der über smarte Transfers und verbesserte Nachwuchsarbeit bleibt. Auf Knopfdruck eine neue Mannschaft kaufen sei für den HSV finanziell nicht (mehr) drin – und auch hier behaupte ich: Man wird zu seinem Glück gezwungen.

Der HSV wird zu seinem Glück gezwungen. Hoffentlich.

Denn auch beim HSV gibt es diesen einen Effenberg, den aktuell vielleicht so gar niemand auf dem Schirm hat. Man muss manchmal eben einfach nur tiefer buddeln, mehr Zeit investieren – und vor allem den Mut haben, diesen Youngstern eine Chance zu geben. Heute im Training beispielsweise waren drei U19-Youngster dabei, die allesamt nicht im Sancho-Style alles sofort in die Tasche steckten. Suhonen, Fabisch und der immer häufiger mittrainierende Sousa aus der U19 durften mitmachen, weil einige Spieler geschont wurden (Papadopoulos, Hunt) und andere bei verschiedenen Nationalteams weilen.

Sie sind also allesamt recht unverschuldet zu der Ehre gekommen, „oben“ dabei zu sein. Aber wer weiß: Vielleicht ist ja für einen der drei diese Länderspielpause dieser eine Moment, den Effenberg beim Länderkampf hatte. Oder Josha Vagnoman mit seinem Tor gegen Aue, das ihm so viel Auftrieb gab, dass er als junger, zuvor stark kritisierter Spieler nicht zu früh den Mut verlor und stattdessen sogar aufblühte. Dass dieser eine so wichtige Ball dabei erst durch einen Auer Abwehrspieler unhaltbar abgefälscht wurde und dementsprechend viel Glück dabei war zeigt nur, wie nah „durchstarten“ und „abstürzen“ beieinander liegen können.

Der Druck im Existenzkampf stand dem HSV im Weg

Beim HSV wird und wurde in den letzten Jahren immer wieder die Nachwuchsarbeit kritisiert. Inhaltlich meiner Meinung nach auch zurecht, da es keine erkennbare Philosophie gab, die länger verfolgt wurde. Ständige Wechsel auf der Verantwortlichen-Ebene führten zu ständigen Wechseln in der Ausbildungsphilosophie. Als man aus der finanziellen Not heraus erkannte, dass es wichtiger denn je sei, auf die eigene Ausbildung zu setzen, verspielte man sich die Möglichkeit, Talente „oben“ auf Bundesligaebene Erfahrungen sammeln zu lassen, indem man sich sportlich in Existenznöte brachte. Das Risiko war den Trainern anschließend zu hoch. Und so leicht es von außen ist, Talente zu fordern, so nachvollziehbar schien es auch, dass die Trainer in diesen Dauer-Druckphasen eher auf Erfahrung setzten. Der Moment sei nicht dafür geeignet, zu experimentieren, hieß es immer.

Und auch jetzt hat HSV-Trainer Hecking Druck. Den Druck, aufsteigen zu müssen. Alles andere wäre enttäuschend. Auf dem Weg dahin Punktverluste zu riskieren, weil man interessante Talente heranführen will – nahezu ausgeschlossen. Leider. Stattdessen bedarf es schon einiger glücklicher Fügungen, damit sich die eigenen Nachwuchsspieler auf höchster Ebene empfehlen dürfen. Oder wie im Fall Vagnoman eben auch mal einem höchst unglücklichen Moment wie die (üble) Verletzung eines Stammspielers (gute Besserung weiterhin, Jambo). Natürlich wünsche ich niemandem eine Verletzung. Logisch! Aber ich hoffe, dass der HSV in den nächsten Wochen und Monaten immer wieder mal dazu gezwungen wird, seine Talente auf höchstem Niveau zu bringen.

David in der Innenverteidigung, einen Sousa auf der Außenverteidigerposition. Oder auch einen jungen Faride Alidou als Außenstürmer. Und das sind nur drei von vielen kleinen Effenbergs beim HSV. Sie alle haben das Zeug, diesen einen glücklichen Moment zu nutzen, wen er sich ihnen bietet. Und so selten eben diese Momente sind, ich hoffe mehr denn je, sie bekommen ihn beim HSV. Was mir hierbei Hoffnung macht: Aktuell – und das hat mir das Gespräch mit Martin Harnik noch einmal deutlich gemacht – hat die Mannschaft das erste Mal seit langem wieder die notwendige Stabilität, um Talente nachhaltig heranzuführen.

 

Helfen könnte dabei auch der morgige Test in Braunschweig. Um 17.30 Uhr treffen die gesunden, in Hamburg verbliebenen Spieler im Eintracht-Stadion auf den Drittligisten Eintracht Braunschweig. Und dabei werden sicher einige Spieler spielen, die sonst nicht so oft (oder noch gar nicht) zum Einsatz gekommen sind. Vielleicht ja auch ein paar Youngster.

In diesem Sinne, bis morgen. Wir werden natürlich für Euch vor Ort sein und von dort berichten. Vorher werde ich natürlich wie immer morgen früh wieder um 7.30 Uhr mit dem MorningCall bei Euch sein. Wenn Ihr denn wollt.

Scholle

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