Marcus Scholz

10. August 2020

Die Sehnsucht beim HSV nach besseren Zeiten ist groß. Nicht selten sogar zu groß. Das wiederum mündet darin, dass sich in den letzten Jahren immer wieder Verantwortungsträger darin versuchten, Dinge größer und schöner auszumalen, als sie in Wirklichkeit waren – was selten bis wie funktionierte. Es führte dazu, dass diese Verantwortlichen ebenso schnell verschwanden wie die sie begleitende Hoffnung, dass es mit und durch sie besser wird. „Nur reden allein bringt keine Erfolge“, hatte Daniel Thioune daher bei seinem Amtsantritt in Hamburg gleich einmal klargestellt. Und zumindest bei mir hat er damit die Hoffnung geweckt, dass er es sein kann, der dieses unsägliche Gerüst aus Selbstüberschätzung in Hamburg einreißt und gesund neu aufstellt. Kein „nur-der-Aufstieg-reicht“-Gefasel mehr, ehe auch der Kader dafür da ist, sondern ein den Umständen entsprechend formuliertes realistisches Ziel.

Gestern im Test gegen Rostock hatte Thioune damit begonnen. Da hieß das Ziel übrigens auch nicht „den unterklassigen Gegner aus dem Stadion ballern“, sondern nach gerade erst vier Trainingstagen defensiv sicher zu stehen und dem Gegner nicht zu viel Ballbesitz zu überlassen. Und das hat ganz ordentlich funktioniert, wie Thioune im Anschluss befand. „Wir wollten sicherlich auch ein bisschen besser Fußball spielen, aber das braucht alles noch seine Zeit. Jetzt ging es erstmal darum, das umzusetzen, was wir in den ersten Trainingstagen erarbeitet haben“, sagte er und für einige mag das etwas grau wirken. Langweilig. Aber ich freue mich über diese Art, denn der neue HSV-Trainer analysierte das Spiel wohltuend realistisch und ohne es unnötig bunt auszumalen. Thioune will keinen Glamour, wo er nicht hingehört. Und das ist gut.

In Hamburg werden Talente zu schnell hochgejubelt

Vielleicht hilft das auch dabei, junge Talente nicht schon zu zerstören, bevor sie überhaupt anfangen konnten, sich zu entwickeln. Wie bei Stephan Ambrosius zum Beispiel, der heute schon zum „ersten Gewinner unter Thioune“ hochstilisiert wird, nachdem er gegen Hansa Rostock ein gutes Spiel absolviert hatte inklusive spätem Siegtreffer. Und wenn ich Thiounes Reaktion gestern auf die Fragen nach Ambrosius richtig gedeutet habe, dann weiß auch der neue Trainer schon, wo er intern ansetzen muss, damit zu frühe Euphorie nicht in Enttäuschung mündet. Er weiß, dass er Talente schützen muss.

Als ich die Story über den inzwischen erfolgreich am Kreuzband operierten Finnen Anssi Suhonen geschrieben habe, wollte ich damit auf eine sehr spannende Geschichte aufmerksam machen bei einem Spieler, der sich hoffentlich auf Sicht beim HSV durchsetzen kann. Allein sein Werdegang bis heute ist schon beeindruckend und rechtfertigt diese Geschichte, dachte ich. Dazu kommt, dass sein Talent gepaart mit seinem Fleiß und seinem überbordenden Willen, alles zu schaffen, eine sehr gute Basis darstellen. Und das sehen zwar auch beim HSV fast alle so – allerdings haben sich nicht alle gefreut, dass ich den jungen Finnen zum Thema gemacht habe.

 

Sportvorstand Jonas Boldt beispielsweise befürchtete, dass man dem Jungen selbst damit keinen Gefallen täte. Wobei ich sagen kann, dass Suhonen sich nicht dazu verleiten lässt, überheblich zu werden. Im Gegenteil: Er selbst sagte sofort, dass er nichts sagen wolle, weil er noch nichts geleistet hätte, was das rechtfertigen würde. Dennoch ist die Befürchtung seitens des HSV durchaus nicht unberechtigt, wie einige Beispiele aus der Vergangenheit bewiesen haben.

Auch hier im Blog haben einige Leserinnen und Leser meine Ausführungen so aufgenommen, als würde ich den nächsten Heung Min Son ankündigen. Und das war tatsächlich weder meine Intention noch glaube ich, dass die beiden fußballerisch vergleichbar sind. Aber so schnell kann es nun mal gehen und Erwartungen werden zu groß. So groß, dass die jungen Spieler daran kaputtgehen gehen können. Denn auf der einen Seite hat man ihnen in den letzten Jahren gepredigt, möglichst keine Schwächen zu zeigen. Sie sollen gerade in jungen Jahren beweisen, dass sie ohne zu jammern lernen und Dinge hinnehmen. Auf der anderen Seite brauchen sie dieses Ventil, wenn der Druck zu groß wird.

Talente haben zu schnell zu viel Druck auszuhalten

Bälle schleppen, Traineransagen klaglos hinnehmen und sich von den Leistungsträgern führen lassen – „Schnauze halten und mitmachen“ ist das Motto für die Youngster im Team. Und weil sie Nachteile befürchten, wenn sie Probleme ansprechen, schweigen junge Spieler lieber als sich zu öffnen. Was folgt ist nicht selten eine völlige Überfrachtung mit Problemen, die gerade die jungen Spieler ohne Hilfe eben nicht lösen können. Sie müssen Hilfe bekommen. Beim HSV ist man hierbei inzwischen in einer Zwickmühle. Hier fehlen Erfolge, Positiverlebnisse und Hoffnungsträger.

Und wenn die nicht da sind – werden sie halt kreiert. Beispiel: Stephan Ambrosius. Der junge Innenverteidiger hat am Sonntag gegen Rostock ein gutes Spiel gegen einen unterklassigen Gegner gemacht und sich am Ende sogar noch mit einem Treffer selbst belohnt.  Soweit so gut. Ihn zu loben ist okay. Ihn zu feiern wäre zu viel. Und ihn zu einem „Gewinner unter Trainer Daniel Thioune“ zu machen – das ist zu früh. Viel zu früh. Vor allem besteht die große Gefahr, dass es Erwartungen an Ambrosius knüpft, dieser noch nicht (oder gar nicht) erfüllen kann.

 

Von daher muss auch ich mich hier daran messen lassen, mit Augenmaß zu urteilen. Das heißt: Nicht relativ betrachtet – sondern auf das Große ausgerichtet. Wer beim HSV gut ist, muss noch lange kein Toptalent sein. Die Frage ist vielmehr: Reicht eine Leistung wie die von Ambrosius, um in der Zweiten Liga hinten Sicherheit zu verleihen? Und: Ist der Spieler schon imstande, diese Leistung konstant abzurufen? Was genau ich meine, lässt sich vielleicht an dem bekanntesten HSV-Beispiel der letzten Monate erklären: Fiete Arp.

Arp und Co. werden auch von uns hochgeschrieben

Denn der konnte es nicht. So cool der Junge auch mit dem schnellen Ruhm umgegangen ist, er wurde davon überrannt. Ohne es selbst zu beeinflussen wurde er überall - auch hier von mir - zum Hoffnungsträger hochgeschrieben. Dabei passte schon das Umfeld dafür nie. Es gab einfach nie die funktionierende Mannschaft, in der sich Arp entwickeln durfte. Vor allem gab es nie den Moment, in dem er mal nicht funktionieren durfte. Arp stand immer unter dem Druck, dass er helfen muss. Anstatt noch eine Zeitlang ein hoffnungsvolles Talent sein zu dürfen, wurde er zum Hoffnungsträger. Weil die fertigen Spieler um ihm herum einfach nicht funktionierten und den Fans nicht ausreichten, um sich an ihnen festzuhalten. Es wurde ein Held gesucht - und fatalerweise in Arp gefunden.

Beim HSV regiert schon lange der Wunsch nach dem, was nicht da ist. Oder andersrum formuliert: Das, was da ist, reicht nicht mehr. Kein Hunt, kein Hinterseer, kein Harnik, kein Pollersbeck – keiner. Es ist hier schon sehr auffällig, dass sich nahezu alle im HSV-Kosmos – und da beziehe ich uns Journalisten zu 100 Prozent mit ein – viel zu schnell emotional auf das einlassen, was neu ist, sofern es einmal funktioniert. Xavier Amaechi beispielsweise war in der abgelaufenen Saison der Spieler, nach dem im CommunityTalk mit ganz weitem Abstand am meisten gefragt wurde. Er wurde sogar von vielen gefordert! Obwohl diese Leute ihn nicht einmal im Training gesehen haben und deshalb begeistert waren. Es reichte einfach, dass er noch nicht bewiesen hatte, dass er es auch nicht kann.

 

Die Messlatte beim HSV hängt tief. Und es sind fatale Kriterien, nach denen hier Spieler zu Hoffnungsträgern aufsteigen. Sehnsucht schlägt hier schon längst die Vernunft. Vor allem aber funktionieren diese Kriterien nicht, sondern zerstören ausschließlich Hoffnungen auf vermeintlich große Karrieren (beim HSV). Selbst bei den Spielern, die gesund aufgebaut vielleicht eine große Karriere starten könnten. Gestern hießen diese Talente noch Arp, heute vielleicht Ambrosius, und morgen viellecht Opoku, Suhonen, Hein oder sonstwie. Und ja, ich weiß, dass ich damit allen denen eine klare Vorlage liefere, die mir Vorwürfe machen wollen. Aber entscheidend dabei ist für mich nur eines: Das muss aufhören. Gerade jetzt, wo der HSV darauf angewiesen ist, dass sich Talente hier entwickeln.

In diesem Sinne, bis morgen!

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