Marcus Scholz

7. Juli 2020

Ich war zwar nur ein paar wenige Tage wirklich weg, aber diese vier Tage waren aus Blogsicht sehr interessant. Neben dem sehr emotionalen Text von „Raute im Herzen“ hat mir insbesondere der Text von unserem Gastautor Dr. Olaf Ringelband gefallen, weil dieser sich mit genau einem Übel  beschäftigt hat, das den HSV in den letzten Jahren zu dem hat werden lassen, was er heute ist: einen Zweitligisten. Denn die Arroganz der letzten Jahre, sich immer wieder von Anbeginn der Saisons als großen Favoriten hinzustellen, für den alles andere als das Maximum eine Enttäuschung ist, muss raus beim HSV. Und seit gestern, seit der Inthronisierung von Entwickler Daniel Thioune als neuen Trainer beim HSV, dürfen wir hoffen, dass der HSV den Weg zum Neubeginn nicht wieder beim ersten Widerstand abbricht und in alte Muster verfällt. Soll heißen: Dass der HSV endlich die Arbeit aufnimmt, von der Basis an entwickelt und aufhört, wie ein verunfallter Bundesliga-Dino zu denken.

Daniel Thioune hatte das gestern schon (für mich ebenso erstaunlich wie erfreulich) deutlich gesagt: Der HSV braucht mehr Geduld, muss demütiger werden – und seine Rolle annehmen. Er sagte das zwar Immer so, dass er hier niemandem auf die Füße tritt, bevor er richtig angekommen ist. Aber er formulierte es schon eindeutig. Und er hat zu 100 Prozent Recht! Denn der HSV hat sich einfach zu groß gemacht. Oft wirkte es sogar so, dass sich der HSV umso mehr aufplüsterte, je weniger er leistete. Und genau damit hat sich der HSV selbst zu viel Druck gemacht, den die Gegner zu nutzen wussten. „Wir müssen tun, nicht nur wollen Vielleicht ist durch die Ansage, aufsteigen zu müssen, ein bisschen Angst entstanden“, so der neue Trainer, der von Sportvorstand Jonas Boldt an seiner Seite Unterstützung erhielt. „Wir haben mit Daniel einen Trainer geholt, der in Osnabrück mit überschaubaren Mitteln eine Mannschaft stetig weiterentwickelt hat. Er passt zu unserer den etwas veränderten Möglichkeiten angepassten Ausrichtung“, so der Sportvorstand des HSV gestern. Und das, nachdem Boldt vor ein paar Tagen noch fest davon überzeugt war, dass in Hamburg nichts anderes als der Aufstieg als Zielvorgabe vermittelbar sei.

Jetzt sah sich Boldt gezwungen, umzudenken. Und das ist gut so. Ich weiß, ich wiederhole mich. Aber das mache ich in diesem Fall gern. Denn seit Jahren schon warte sicher nicht nur ich darauf warten die HSV-Fans darauf, dass sich der HSV eine eigene, signifikante DNA aneignet. Unter der Führung von Thioune soll die Mannschaft des HSV sowohl preiswerter, vor allem aber auch peu à peu besser werden. Rund 30 Millionen Euro sah der Etat in der Vorsaison vor, lediglich 23 Millionen sollen es im bevorstehenden Spieljahr werden. Neue Top-Spieler kann sich der wirtschaftlich angeschlagene Verein nicht mehr leisten, vorhandene Leistungsträger müssen eventuell verkauft werden. „Der HSV ist in einer Situation, wo kein Spieler unverkäuflich ist“, sagt Boldt und macht damit das neue Bild komplett: Dieser HSV ist in der Aufbauphase. Oder wie Thioune es passend formuliert: Man geht nicht nur zwei Schritte zurück, sondern nimmt einfach nur Anlauf.

 

Der HSV schrumpft sich selbst auf reale Größe. Und ich genieße diese Entwicklung, weil sie – gut gemacht – den HSV sanieren kann. Das wird dauern, logisch! Aber das darf es auch, behaupte ich. Zumindest ist das Umfeld dafür bereit. Oder nicht? Wie sehr Ihr das? Habt Ihr die Ausdauer, den handelnden Personen die Zeit zu geben, eine gute Nachwuchsausbildung im Verein zu integrieren, auch wenn das mal auf Kosten des schnellen Erfolges geht?

Bitte keine Kompromisse mehr!

Ich habe diese Geduld nicht nur, ich werde sie hier auch immer wieder einfordern. Ich freue mich darauf, die Vagnomans, David, Onanas und Co. beim HSV auf dem Platz zu sehen.  Und wenn sie Fehler machen, werde ich sie nicht deshalb abwerten, sondern lediglich bewerten, inwieweit sie anschließend daraus lernen. Oder anders formuliert: Ich werde Entwicklungen begleiten. Und darauf habe ich riesig Bock, weil mir der andere Weg zuletzt nur noch gegen den Strich ging. Und das, obwohl ich Dieter Hecking mochte/mag und ihn als Trainer sehr schätze. Aber seine Art ist tatsächlich besser in der Ersten Liga bei einem starken Kader aufgehoben, der nicht mehr groß entwickelt, dafür aber von einem Souverän verwaltet werden muss. Denn DAS ist Hecking, von dem ich mich im Zusammenhang mit dem HSV mit diesen letzten Worten dann ebenso verabschieden möchte, wie von dem Gedanken, mit Geld könne der HSV den Weg zurück in die Erstklassigkeit finden.

Ich will keine „Kompromissspieler“ wie Behrami, Spahic, Papadopoulos, Djourou und Co. mehr sehen. Also keine Spieler, die viel verdienen, aber nicht mehr den ganz hohen sportlichen Ansprüchen entsprechen. Diese Spieler brachten zwar ein vergleichsweise sicher erwartbares Mindestmaß an Qualität mit, was es von den Chefplanern wenig mutig machte. Nein, alle diese Spieler waren zu teuer. Auch, weil sie den Schritt zum HSV nicht mehr als Herausforderung sahen. Und jetzt will der HSV genau dieses Bild drehen.

Misserfolge müssen einkalkuliert werden

Dazu gehört Mut, denn auf Spieler zu setzen, die noch nie auf dem Niveau agiert haben, auf das man sie hier schnell heben will, ist ein Risiko. Und das wird in den nächsten Monaten auch mal schief gehen, wenn es normal läuft. Damit müssen wir uns gedanklich anfreunden, wenn wir den Weg über junge, erfolgshungrige Spieler fordern. Dafür aber bekommen wir wieder gesunden Ehrgeiz, ein höheres Maß an Identifikation und vor allem an ehrlicher Arbeit zu sehen. Dass die Presseagenturen den HSV vom Krösus zum Schmalhans machen kann ich nicht nachvollziehen. Denn der HSV hat mit Pollersbeck, Leibold, Hunt, Kittel, Dudziak, Hinterseer und Co. noch genügend Spieler im Kader, die den Anspruch haben müssen, zu den Besten der Liga zu gehören.

„Der Ist-Zustand ist gut“, sagt auch Thioune angesichts des vorhandenen Kaders, fügt aber auch gleich warnend hinzu: „Das Ganze wollen wir auf eine gesunde Basis bringen mit einem Entwicklungsprozess, der vielleicht ein paar Tage länger dauert.“ Womit ich zu Herrn Dr. Ringelband komme, der das ganze Dilemma sehr gut beschrieben hatte. Ich zitiere:

Beim HSV gibt es seit Jahren eine “Minderleistungskultur” - schlicht gemessen daran, wie groß die Differenz zwischen dem Platz in der Etat-Rangliste und dem in der Tabelle ist. Was ist “Kultur”? Das sind die unbewussten Prinzipien, nach denen sich alle Mitglieder einer Organisation verhalten. Diese Regeln sind erstens unbewusst und zweitens unabhängig davon, ob man Personen auswechselt oder welche Strategien/Konzepte man ausprobiert. Kultur wird von oben herab geprägt - wenn der Chef einer Baufirma auf der Baustelle keinen Helm trägt, prägt das die Kultur der Firma, wenn der Chef ein dickes Auto fährt und gleichzeitig Gehaltserhöhungen verweigert, ist das auch kulturprägend.

Aber es ist eben kontraproduktiv. Daher ist der Wechsel an der sportlichen Spitze vom erfahrenen Routinier Hecking hin zum aufstrebenden, zuletzt erfolgreichen und doch immer vergleichsweise jungen Thioune absolut richtig.  Denn plötzlich wird vom Trainer authentisch vorgelebt, worum es geht: sich hier beim HSV für nichts zu schade sein. Im Gegenteil! Während der Anspruch an  Hecking der war, dass er für den kader- wie etatmäßig besten Klub der Zweiten Liga auch auf der Trainerposition Überlegenheit ausstrahlt, soll Thioune etwas Neues aufbauen. Er darf von allen Spielern auch den hässlichen Fußball fordern – und das macht er auch sofort. Gestern forderte er von allen als allererstes, dass sie kämpfen. Er bezeichnete es als selbstverständliche Basis im Spiel. Unabhängig davon, ob der Spieler Aaron Hunt oder Jonas David heißt. Und im Gegensatz zu Herrn Dr. Ringelband, der zu Zeiten seines Blogbeitrages noch nicht wusste, dass Thioune hier übernimmt, wissen wir das jetzt. Dr. Ringelband schrieb in seinem Fazit:

Leider ist der Ausblick recht pessimistisch. Mit einem in der nächsten Saison deutlich geringeren Etat und damit einer schwächeren Mannschaft kann man nur dann erfolgreich sein, wenn der gesamte Verein von einer Haltung geprägt ist, “wir sind nicht die Reichsten, wir haben nicht die besten Spieler, aber geben alles, um es den besseren Mannschaften zu zeigen”. Und das ist eine Mentalität, die 180° entgegengesetzt zur vorhandenen Mentalität des HSV steht.

Und so richtig Dr. Ringelband mit dieser Aussage auch lag, heute wissen wir, dass der HSV gelernt hat. Wobei, nein, vorsichtig! Der ist gerade dabei, zu lernen. Er wurde auch dazu gezwungen, ganz klar. Aber im Gegensatz zu vielen Vorständen zuvor nehmen Boldt und Co. die neuen Umstände endlich auch an. Zusammen mit Thioune will man hier genau diese von Herrn Dr. Ringelband und uns hier zuvor in zahllosen Blogs geforderte 180°-Drehung hinzulegen.

Macht der HSV es gut, folgt das (wirtschaftliche ) Umfeld eh...

Ich weiß nicht, wie Ihr es seht, aber ich habe wirklich richtig Bock darauf! Ich verabschiede mich nur zu gern von dem Gedanken, nächste Saison in jedem Spiel der absolute Topfavorit zu sein. Das heißt nicht, dass ich nicht aufsteigen will – das will ich immer! Aber ich will diesen Zwang nicht mehr zulassen, weil er einfach vermessen ist. Ich freue mich stattdessen extrem auf den Moment, in dem auch die letzten Zweifler überzeugt werden, dass der Weg über ehrlich Arbeit an der Basis anstelle von simplen, aber teuren Einkäufen erfolgreicher und auch noch tausendmal sympathischer und nachhaltiger sein wird. Und ganz nebenbei: Wollen wir wetten, dass spätestens dann auch das über die letzten Jahre entnervte wirtschaftliche Umfeld des HSV wieder aufspringen wird? Denn das ist gar nicht so schwierig – aber es braucht wie wir alle einfach einen HSV, der nicht mehr großkotzig auftritt und endlich für etwas anderes steht als für immer wiederkehrende Enttäuschungen. Und wenn das bedeutet, erst einmal einen Schritt zurück zu gehen, um neuen Anlauf zu nehmen...

 

In diesem Sinne bis morgen. Da melde ich mich wie immer früh um 7.30 Uhr mit dem MorningCall bei Euch, ehe Janik und ich am Nachmittag im Community-Talk wieder versuchen werden, alle Eure Fragen zu beantworten, Und das sind diesmal sehr viele – wie ich gehört habe...

Bis morgen,

Scholle

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