Marcus Scholz

13. April 2020

Es gibt sie, diese eingefahrenen Abläufe. Die halten sich oft auch gegen alle gegenteiligen Entwicklungen. Und dann wird es gefährlich - weil es unsympathisch wird. Der FC St. Pauli beispielsweise hat im Umgang mit meinen Kollegen einen Umgang, wie ihn sportlich wohl (wenn überhaupt)  nur der FC Bayern beanspruchen dürfte. Und auch beim HSV haben sich in den letzten Jahren entgegen der sportlichen Entwicklung nach unten Verhältnisse eingeschlichen, wie sie so nicht zu vertreten sind. Aus Spielern werden kleine Popstars gemacht. Und als würden die sich einer unkontrollierten Teeny-Horde von Fans ausgesetzt sehen, müssen schon die fünf Meter vom Platz bis zu Stadiontreppe bei Trainingseinheiten streng abgesperrt und von mindestens zwei Ordnern behütet werden. Dabei stehen drumherum fast imm er nur Familien mit Kindern, die Autogramme oder Selfies mit ihren Idolen machen wollen. „Ja, aber was wäre, wenn…“ ist hier immer das Argument des HSV. Und das ist nicht so einfach zu widerlegen. Auch „bei den anderen ist es nicht anders“ wird gern genommen. Problem hierbei: Ich befürchte, dass die allermeisten Profiklubs demselben Irrglauben unterliegen.

Und der HSV lebte dieses Gehabe in den letzten Jahren oft von oben vor. Das Gerede vom „großen HSV“ etc. hören die Fans zwar gern, weil sie sich mit dem Status Quo eben nicht abfinden wollen. Warum auch - soll ja wieder schnell nach oben gehen. Und wenn man schon nicht so wichtig ist, dann macht man sich eben wichtiger. In den letzten Tagen habe ich immer wieder mal beschrieben, wie es auch funktioniert hat. Oder besser: Wie es besser funktioniert hat. Denn diese zunehmende künstliche Distanz zwischen Spielern und Fans mag in den letzten Jahren dazu geführt haben, dass der Reiz bei den Fans noch größer und die Exklusivität der Spieler trotz allem zugenommen hat. Aber das wird sich drehen. Irgendwann. Die Tickets in den Stadien - allemal beim HSV - sind schon versaut teuer. Einen Mittelklasse-Sitzplatz gegen Darmstadt oder Regensburg mit ner Wurst und einem Getränk kann sich ein Vater allein mit seinem Sohn kaum mehr leisten, ohne nicht mindestens 100 Euro ausgeben zu müssen. Für die Zweite Liga! Was ich damit sagen will: Wer auch immer der Meinung ist, diese wirtschaftlichen Zwänge sind beim HSV nicht zu umgehen, der sollte auf der anderen Seite nicht glauben, mit Exklusivität, Star-Gehabe und einer zunehmenden Unterscheidung zwischen Fan und Profi drumherum das Ganze erklären geschweige denn rechtfertigen zu können. Nein, derjenige sollte zusehen, seine Anhänger mitzunehmen.

Vereine erziehen ihre Spieler zur Unselbständigkeit

Denn das geht nicht nur so - vielmehr wurde der HSV so überhaupt erst wieder erfolgreich. Erfolgreicher als heute sogar. Aber wenn ich bedenke, wie der HSV 2000 in die Champions League eingezogen ist und ein Star wie Tony Yeboah jeden Tag noch im Auto sitzend den Arm um sich legen ließ oder seine Anhänger von sich aus in den Arm nahm für ein Foto, dann erkenne ich schnell, was fehlt. Denn die HSV-„Stars“ der letzten Jahre offenbaren das Missverhältnis aus Leistung und Anspruch nur zu deutlich. Festzumachen am Gehalt und dem Verhalten drumherum. Und das Entscheidende hieran ist: Es waren nicht allein die Spieler, die sich diese Rechte einfach so herausnahmen. Zumindest nie allein. Es ist die Haltung des HSV, die ihren Spielern zugestanden und schlimmstenfalls sogar von oben so vorgelebt wurde und wird.

Parallel zu diesem zunehmenden Missverhältnis zwischen dem Fan und ihrem/seinem hat sich auch die Pressearbeit in den letzten Jahren verändert. Früher - und damit meine ich beispielsweise die Champions-League-Jahre - gab es kaum Beschränkungen. Der HSV vertraute seinen Spielern. man bot ihnen Hilfe an - aber man kontrollierte sie nicht. Und einhergehend mit diesem Vertrauen übergab man den Spielern ein Stück weit Verantwortung, die in den allermeisten Fällen auch in ein Stück weit Identifikation mündete. Natürlich gab es auch früher schon diese Idioten, die ihr Geld abgeholt haben und denen es scheißegal war, ob sie beim HSV, dem FC St. Pauli oder dem SC Vier- und Marschlande dafür kicken mussten. Aber sie waren seltener, weil dem Spieler an sich von früher einfach nicht alles abgenommen wurde. Haus, Wohnung, Auto, Botengänge, Besorgungen, Wäsche waschen - das war früher schon ein Luxus, den der HSV seinen Spielern gönnte. Kann man darüber diskutieren - war aber so. Aber wenigstens nahm der HSV seinen Spieler nicht die soziale Verantwortung ab, ein Verhältnis zu den Fans aufzubauen.

 

Heute kann sich jeder Spieler entziehen. Ganz einfach nein sagen, wenn der kleine Pressestellenmitarbeiter anfragt. Das reicht(e) in aller Regel. Jaroslav Drobny beispielsweise hat nie Interviews gegeben, Pierre Michel Lasogga nur mit seinen Freunden von Sky und selten mal BILD gesprochen, Spahic und andere haben einfach gar nichts gemacht. Selbst dann nicht, wenn der Verein es wollte. Wieder anderen wurde es einfach nicht zugetraut, den HSV adäquat zu vertreten. Schwächen zu zeigen wurde verboten - und genau das ist meiner Meinung nach das größte Problem. Denn Sympathien entwicklen die Fans nicht nur zu den Starken, sondern nicht seltener zu den Fehlbaren. Jimmy Hartwig war ein einfacheres Gemüt - und seinerzeit extrem beliebt. Er verkörperte mit unbedingtem Einsatz auf dem Platz den HSV früher ebenso wie die anderen, deutlich talentierteren Superstars. Carsten Kober grätschte sich in die Herzen der Fans, Heiko Westermanns Popularität nahm quasi mit jedem Stockfehler und jedem Pfiff gegen ihn zu - weil auch er nach außen Identifikation verkörperte. Die Leute mochten die Spieler, wie sie waren.

Lasst die Spieler Typen sein, erlaubt Fehler!

Und heute? Heute wird alles von Marketingabteilungen und anderen geregelt, die die Außenwirkung steuern wollen. Natürlichkeit? Gibt’s nicht mehr. Dabei würde ich gerade angesichts solch guter, echter Typen wie Mickel, Moritz, Leibold, Jatta, Hecking, Bremser, van Drongelen und Co. wetten, dass Frank Pagelsdorf’s „Lange Leine“ aus dem Jahr 2000 auch heute lesen würde, dass die Mannschaft noch deutlich enger zusammenwächst. Dauerbeobachtung und Maßregelung von oben indes verhindern das. Klar ist: Scheiße bauen, das machen die Spieler von heute genau so oft und gern wie wir früher. Angesichts ihres oft noch jugendlichen Alters auch völlig normal. Hab ich doch auch gemacht. kam es heraus, habe ich Ärger bekommen. Heute fliegen die Spieler raus, weil der Verein keine Fehler mehr zugesteht. Verantwortung zu übernehmen wird zum Risiko für Spieler. Denn während früher allein die Leistung auf dem Platz entschied, muss der Profi von heute clean sein. Ecken und Kanten werden ebenso konsequent weggeschmirgelt wie das Geschrei nach echten Typen im selben Moment lauter wird. Klingt paradox - ist aber so. Allein hier zeigt sich mir schon, was gerade mächtig falsch läuft.

Es war aber nicht immer so. Im Gegenteil: Früher wurden Typen teilweise sogar in ihren Eigenheiten gefördert, die Schwächen als dazugehörig akzeptiert. Womit ich zu meinem angekündigten Beispiel kommen möchte: Thomas Gravesen. Der Däne kam zum HSV als riesiges Talent - und als Enfant terrible. Im Training drehte der defensive Mittelfeldspieler immer so stark auf, dass er nicht selten auch über das Ziel hinausschoss. „Gerd, Du Aaassslock“ entfuhr es Gravesen beispielsweise einmal, als er Athletiktrainer Gerd Kleimakers Abseitsentscheidung im Abschlussspiel nicht akzeptieren wollte. Heute würde das ein öffentlich viel beachtetes Disziplinarverfahren nach sich ziehen - damals lachte Kleimaker laut auf und Gravesen entschuldigte sich nach dem Training. Durch war das Ding! Auch gegenüber der Presse nahm man dem Thema so jegliche Aufregung.

Entscheidend war immer, dass alle in dieselbe Richtung ruderten. Und diese Geschlossenheit demonstrierten sie auch allen Außenstehenden. Sie demonstrieren natürlichen Zusammenhalt. Nichts aufgesetztes, nichts zigmal korrigiertes und weichgespültes - man war einfach, wie man war. Und man ließ die anderen sein, wie sie waren. Pagelsdorf beispielsweise erarbeitete sich bei den Profis so ein Maß an Autorität, wie es beim HSV seither die wenigsten Trainer hatten. Weil er klargemacht hatte, worum es ihm ausschließlich ging: Darum, auf dem Platz zu funktionieren.

 

Einer der Besten damals wie gesagt: Thomas Gravesen. Und der zeigte auf dem Platz ebenso konstant starke Leistungen, wie er drumherum durch Schabernack auffiel. PS-Fan und damals Porsche-Fahrer Bernd Hollerbach erzählte mir mal, dass er auf dem Weg Richtung Hamburg aus Richtung Kiel kommend mal trotz knapp 260 Kmh auf dem Tacho locker von einem Motorradfahrer mit Badelatschen und kurzer Hose überholt und dabei gegrüßt wurde.Später habe er dieses Motorrad dann vor dem Trainingstrakt auf dem HSV-Parkplatz wiedererkannt. Und es gehörte - welch’ Wunder - Thomas Gravesen. Der Däne hatte tatsächlich ziemlich viel Quatsch im Kopf. Als der HSV mal wieder zwei Einheiten an einem Tag hatte, gingen viele Spieler zusammen ins italienische Restaurant im Herold-Center, einem Einkaufszentrum in Norderstedt in unmittelbarer Nähe zu den Trainingsplätzen Ochsenzoll. Auch das Trainerteam nutzte die Pause, um sich außerhalb zu treffen und zu besprechen. Was keiner bemerkte: Zwei Spieler blieben in dem Kabinentrakt. Einer von ihnen war Thomas Gravesen, der eine Idee hatte. Und das bedeutete selten Gutes…

Als Gravesen dem HSV seinen nackten Arsch zeigte

Diesmal hatte er sich einen Wettkampf ausgedacht. Dazu muss man erklären, wie der Kabinentrakt in Norderstedt aufgebaut war. Denn der hatte einen ewig langen Gang parallel zur Torauslinie des zweiten, oberen  Trainingsplatzes. Von diesem Gang aus gingen rechts und links etliche Räume ab. Büros, Fitnessbereiche, Kabinen - und eben auch die Nassbereiche mit Duschen, Saunen und Whirlpools. Die Idee: Den langen Gang mit Wasser fluten! Es folgten Arschbomben in die Whirlpools, um den Inhalt der Becken auf den Flur zu spülen. Dazu wurde noch Duschgel in den gefluteten Flur gemischt - und fertig war die Rutschbahn. Zu zweit wurde jetzt der Wettkampf begonnen - nackt! Wer den Gang auf dem nackten Hintern weiter herunterrutschen konnte, hatte gewonnen. Eine spaßige Angelegenheit für Gravesen und Co. - die aber jäh von Pagelsdorf verfrühter Rückkehr unterbrochen wurde. Gravesen und sein Kontrahent mussten alles aufräumen - und taten das auch. Die Geschehnisse bekamen intern fast alle mit - wir Journalisten haben von diesem Vorgang trotzdem erst sehr viel später erfahren.

Seitdem hat sich viel verändert. Auch bei uns in der Berichterstattung. Als Rafael van der Vaart beispielsweise das erste Mal nach Hamburg kam, wurden redaktionsintern Stimmen laut, wir müssten seine glamouröse Frau Sylvie mehr in unsere Berichterstattung mit einbeziehen. Ich verweigerte mich diesem Wunsch damals. Ich sagte meinem Sportchef, dass ich niemals ein Wort über Sylvie van der Vaart zu schreiben würde, solange sie nicht direkten Einfluss auf das Spielgeschehen haben würde. Und genau diese Freiheit werde ich mir auch weiterhin nehmen. Wer von mir erwartet, dass ich jeden kleinen Clinch im Training als Eklat hochkoche, den werde ich konsequent enttäuschen. Ich für meinen Teil würde mich sogar freuen, wenn die Mannschaften, über die ich hier beim HSV in den nächsten Jahren berichte, endlich wieder mehr Eigenleben entwickeln. Regelbrüche nicht nur inklusive, sondern sogar erwünscht. Zumindest solange es hilft, dass die Mannschaft auf dem Platz besser funktioniert.

Was früher besonders war, wird heute untersagt

Die Kabinenrutsche war sicherlich eines der Highlights damals. Aber längst kein Einzelfall. Wie ich gestern versprochen hatte, hat auch der Begriff „Danish Dynamite“, den ich als Deutschland-Fan durch die EM 1992 in echt mieser Erinnerung hatte, eine neue Bedeutung bekommen. Dank Gravesen. Denn der hatte im Winter (das genaue Jahr weiß ich nicht) nach einer der ersten Trainingseinheiten wieder eine pause zwischen zwei Einheiten dafür genutzt, einem Mannschaftskameraden etwas auf dem hintersten der Ochsenzoll-Trainingsplätze zu zeigen. Glaubt man den Erzählungen seines Mannschaftskameraden, hatte Gravesen einen Böller dabei, den er weit hinter dem Trainingsplatz und möglichst fernab der Zivilisation (drumherum waren Ackerfelder) in den Boden grub und anzündete. Anstatt in einen sicheren Abstand von ein paar Metern zu gehen, lief Gravesen und forderte seinen Mitspieler auf, sich zu beeilen. Dieser folgte instinktiv - und das war gut. Denn der „Böller“ im Boden soll - so wird es erzählt - eine geringe Menge Dynamit enthalten haben. Das Loch im Boden war dementsprechend…

Heute indes reicht deutlich weniger Zündstoff, um Bomben im negativen Sinne explodieren zu lassen. Weil sich die Vereine diese Typen aberziehen oder einfach nicht gönnen und sich diese Freiheiten in den letzten Jahren nehmen (lassen). Heute sind alle Profiklubs gleichermaßen sauber und gleichen sich immer mehr an. Besonderheiten, auch wenn - nein: gerade wenn sie mal etwas durchgeknallt erscheinen - werden ausgemerzt. Leider.

In diesem Sinne, Euch allen noch einen durchgeknallten oder zumindest besonders schönen Ostermontag. Und bis morgen! Da wird die Mannschaft wieder in kleinen Gruppen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit trainieren. Mindestens noch die nächste Woche, so habe ich es mitgeteilt bekommen. Ich melde mich aber selbstverständlich pünktlich um 7.30 Uhr wieder mit dem MorningCall bei Euch! Für den Blog habe ich in den letzten tagen hier einige sehr interessante Fragen gelesen, denen wir dann auch wieder nachgehen können.

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