Marcus Scholz

10. April 2020

Eigentlich hatte ich überlegt, den Feiertag auszusetzen. Papierkram erledigen, wozu man sonst nicht kommt, mit den Kindern spielen - einfach schöne Dinge machen, während beim HSV wenig bis nichts passiert. Und zumindest meinen Steuerberater hätte das sicherlich sehr gefreut. Aber beim Sortieren meiner Unterlagen fielen mir auch etliche alte Ordner in die Hände, die mir meine Großmutter bis zu ihrem Tod zusammengestellt hatte. Darin waren zu 80 Prozent wirklich alle Zeitungsartikel über Boris Becker, denn der Leimener war nicht nur mein, sondern vor allem auch ihr großes Tennisidol. Kein Artikel aus dem Tennis Magazin, der Morgenpost, Bild, Welt und dem Hamburger Abendblatt fehlte. Und es gab kein live übertragenes Match Beckers, das sie nicht gesehen und für mich auf VHS aufgenommen hatte. Vor allem aber einen Artikel hätte sich meine Oma am allermeisten gewünscht: Ein Interview von mir mit dem deutschen Wimbledonsieger. Es wäre der perfekte Abschluss für ihre unglaublich umfangreiche und mit viel Liebe produzierte Sammlung geworden, die auf den letzten Seiten stattdessen meine ersten Gehversuche beim Hamburger Abendblatt zeigte. Denn was ich tatsächlich bis eben nicht mehr parat hatte: Genau heute vor 20 Jahren habe ich meinen ersten Vertrag beim Hamburger Abendblatt abgeschlossen.

Damals war das Grund genug für meine liebe Oma, statt Becker-Artikel von dem Moment an meine Artikel zu sammeln. Zwei Monate hatte ich von Februar bis April 2000 als Praktikant beim Hamburger Abendblatt in der Sportredaktion unter Jan Haarmeyer arbeiten und Erfahrungen sammeln dürfen. Dabei lief ich bei Giuseppe di Grazia, Dieter Matz und Christian Pletz immer wieder mit zum Training des HSV, der gerade im Begriff war, sich für die Champions League zu qualifizieren. Mit Spielern wie Jörg Butt, Nico Hoogma, Ingo Hertzsch, Andrej Panadic, Martin Groth, Nikol Kovac, Thomas Doll, Thomas Gravesen, Bernd Hollerbach, Rodolfo Cardoso, Fabian Ernst, Soner Uysal, Andreas Fischer und dem unvergessenen Anthony Yeboah hatte der HSV unter Trainer Frank Pagelsdorf gerade gegen Rostock dank eines Groth-Treffers mit 1:0 gewonnen und dabei früh in der 10. Minute Yeboah mit einem Teilabriss der Adduktoren verloren. 

Unvergessen allerdings bleibt dieses Spiel für mich , weil es das HSV-Spiel war vor diesem Montag, dem 10. April 2000, der mein leben verändern sollte. In den oberen Stockwerken des Axel-Springer-Gebäudes, bat mich der damalige Sportchef, nach der üblichen Morgenkonferenz noch eine Weile sitzen zu bleiben, weil er mit mir sprechen wolle. Ein Gespräch, das meinen ursprünglichen Plan Wirklichkeit werden lassen sollte. Denn ich hatte als gebürtiger Hamburger von frühesten Kindesbeinen an nur einen Traum gehabt: HSV-Reporter zu werden. Da das leider über Studiengänge in Hamburg so nicht zu erreichen war und mir schnell deutlich gemacht wurde, dass diese Posten in Hamburg sehr rar seien, hatte ich mich zu einem Jura-Studium entschlossen und die Hoffnung auf meinen Traumjob schon gen Null runtergefahren, um nicht zu enttäuscht zu sein.

Montag, der 10. April 2000 veränderte mein Leben

Aber das sollte sich an diesem Montag ändern. Haarmeyers Mut sei Dank. Denn der damalige Sportchef des Hamburger Abendblattes musste damals den Abgang di Grazias verkraften, der zu den besten Reporter seinerzeit zählte. Dementsprechend wurde ein Posten bei den Fußballreportern neu besetzen. „Traust Du Dir das zu?“, fragt mich Haarmeyer. Und ich antwortete nur: „Klar.“ Dabei weiß ich noch genau, dass meine Beine so wackelig waren wie vorher nie. Aber ich konnte das ganz gut verbergen. Glaube ich.

Ausgestattet mit dem größten Büro auf der Etage (eigentlich sollten dort zwei oder drei Praktikanten sitzen - ich war aber der einzige) hatte ich es also doch geschafft. Ich habe meinen Vater angerufen, während ich gefühlt fünf Zigaretten in 10 Minuten wegqualmte (damals durfte man noch im Büro rauchen). Ich erzählte ihm von dem Angebot und meiner Entscheidung. Wobei ich beim als als HSV-Sympathisant leichtes Spiel hatte, während meine Mutter, die ich im Anschluss daran informierte, viele Fragen stellte. Gehalt? Arbeitszeit? Befristeter Vertrag oder unbefristet? Sie hatte noch 1000 Fragen, die ich heute nicht mehr erinnere und damals auch nicht beantworten konnte, weil es viel mehr als die Frage Haarmeyers und meinem „Klar“ an diesem Morgen gar nicht gab. Per Handschlag hatte ich meinen neuen Job angenommen - und ich bereue bis heute nichts daran.

 

Wobei, doch eines musste ich damals schon sehr früh und schmerzhafterweise opfern: Meine romantische Vorstellung, dass auch Profifußball-Mannschaften so einen Teamgeist hätten wie ich ihn aus meinem Amateuren beim Niendorfer TSV kannte. Denn obwohl die damalige Mannschaft echt coole, sympathische und loyale Typen wie Butt, Präger, Groth, Gravesen und Co. hatte, war es schon damals eine Ansammlung von Ich-AGs, auch wenn diese im Vergleich zu anderen Mannschaften mehr Zusammenhalt lebten und sich auch dadurch am Ende für eine tolle Saison mit der Champions-League-Qualifikation (über Bröndby IF ging es in die Champions League) belohnten. Und heute kann ich sagen, dass dieser Ich-Bezug bei den Spielern seitdem drastisch zugenommen hatte. So viele, so gute Typen wie damals hatte der HSV seitdem nicht mehr in der Mannschaft. Finde ich zumindest. Seit damals hat sich der Fußball finanziell nach oben, menschlich nach unten entwickelt. Es ist immer mehr Geschäft geworden und immer weniger Teamsport.

Der HSV hat noch einen weiten Weg vor sich

Für mich aber hat der Spaß am Job seit damals nicht abgenommen. Er ist nur anders gelagert. Denn auch wenn damals noch internationale Spiele unter der Woche anstanden und wir uns auf der Anlage Ochsenzoll direkt vor der Kabine tagtäglich mit allen Spielern ungestört unterhalten konnten (heute müssen Termine bei der Presseabteilung angefragt und genehmigt werden), hat mich der April 2000  meine große Leidenschaften in einen Beruf wandeln lassen. Schon damit schätze ich mich außergewöhnlich glücklich. Und im Gegensatz zu den letzten Jahren (mit Ausnahme weniger Monate vor und nach der Ausgliederung 2014) habe ich heute tatsächlich wieder den Ansatz von Hoffnung darauf, dass dieser HSV nicht nur Werte proklamiert, sondern sie endlich auch wieder lebt. Ich weiß, dass es bis dahin noch ein sehr weiter Weg ist, den alle Beteiligten gehen müssen. Aber egal wie viele Millionen Euro seither beim HSV umgesetzt wurden und werden, am Ende wird es genau auf diese alten Werte ankommen. Immer wieder. Davon bin ich überzeugt.

Hilfsbereitschaft, Solidarität, Loyalität - im Moment sind diese Werte so aktuell wie lange nicht. Auch beim HSV, der heute und morgen noch trainiert, ehe die Mannschaft von Trainer Dieter Hecking zwei freie Osterfeiertage geschenkt bekommt. Ich werde mich aber morgen wie immer mit dem Blog bei Euch melden und hoffe noch darauf, dann an dieser Stelle einen Gesprächspartner präsentieren zu können, der die damaligen Zeiten beim HSV ebenso wie die heutigen im Profifußball kennt. Zugesagt hat er mir schon.

 

In diesem Sinne, ich gehe jetzt mal vom Homeoffice auf dem Dachboden runter zur Familie und gönne mir ein Feiertagsgetränk in Gedenken an meine Oma und meine Mutter - aber heute auch im Dank an Jan Haarmeyer, der mir heute vor 20 Jahren diese Chance gegen hat, mein Leben zu verändern. Und ich hoffe, auch Ihr habt heute irgendeinen schönen Grund zu feiern, könnt den Tag genießen, und vor allem: bleibt gesund!

Scholle

FAQs

 
 

Über uns

Die Rautenperle - das ist ein Team aus jungen Medienschaffenden und Sportjournalisten mit großer Affinität zum HSV. Wir sind 24/7 bei den Rothosen am Ball und produzieren frischen Content für Rautenliebhaber.

Unser Ziel ist es, moderne, unabhängige Berichterstattung und attraktiven, journalistischen Content für junge und jung gebliebene HSV-Anhänger zu bieten. Wichtig ist uns dabei, eine neue Art des Sportjournalismus zu präsentieren: dynamisch, zeitgemäß, zielgruppengerecht. Weg von verstaubten Zeitungsspalten und immergleichen Phrasen.

Die Rautenperle ist aber nicht nur ein Ort, um sich zu informieren, sondern soll auch immer ein Ort des Austausches und des Miteinanders sein. Wir wollen eurer Leidenschaft einen Platz im Netz bieten: zum Diskutieren, zum Mitfiebern, zum Mitmachen.