Carsten Germann

26. Januar 2018

Wir starten ins Wochenende mit dem Auswärtsspiel in Leipzig vorweg mit einem kleinen Gastbeitrag:

Einfach ist das nicht. Als BVB-Fan und HSV-Sympathisant in Hamburg über RB Leipzig schreiben zu dürfen? Glauben Sie bloß nicht, dass ich dafür bei Bekanntgabe an Silvester 2016/2017 nicht genug auf die Hörner gekriegt habe. Viel mehr fußballerischer Exotismus geht eigentlich nicht.

Dass RBL-Bashing – der Offline-Trend im deutschen Fußball neben dem Online-Trend HSV-Bashing – auch für Reporter gilt, war mir aber klar, bevor ich in die Red Bull Arena stieg. Klar ist auch: RB Leipzig ist ein Verein, der polarisiert wie kaum ein anderer in Fußball-Deutschland. In Rekordzeit mit viel Geld eines österreichischen Brause-Giganten in den Orbit geschossen, ist RBL wie ein ICE durch die heimelige Bundesliga-Stube gerast. Wusch! Und dann spielten sie auch noch Champions League. Für manchen eingefleischten Hater und Kommerzverächter sicherlich ein Grund mehr, unter der Woche den Fernseher auszumachen.

Spaß beiseite. Man muss RB Leipzig nicht mögen. Aber die Entwicklung, die der Verein ungeachtet der mit ihm verbundenen Kommerzialisierung seit 2009 genommen hat, sollte jedem Fußballfan Respekt einflößen. Vier Aufstiege in sieben Jahren, fünf sogar, wenn man den Sprung in die Champions League dazurechnet. Ist das vielleicht nichts? Als Liga-Neuling in die Königsklasse zu stürmen – das gelang noch keinem Bundesligisten. Das muss man sportlich anerkennen. Ein erstklassiges Umfeld, ein nachhaltiges Konzept, feste Regeln bei der Gehaltsstruktur – nach diesem Mantra funktioniert RBL. Durchorganisiert, mit klugen Köpfen auf und neben dem Platz. Unter uns: Diese Professionalität würde ich mir manches Mal auch bei anderen Vereinen wünschen. Diese Aspekte sollten auch RBL-Hassern helfen, sich ein differenziertes Gesamtbild von RasenBallsport Leipzig zu machen.

In der Kritik an RB Leipzig manifestiert sich aus meiner Sicht die ganze Schizophrenie in der Bundesliga. Wir alle, Fans und Medien, schreien seit 2012 nach einem spannenden Meisterkampf. Wenn dann aber ein „Kommerzklub“ wie RBL sich anschickt, die Liga aufzumischen und den großen Bayern Dampf zu machen, wenden wir uns kopfschüttelnd ab. „Dann soll lieber Bayern Meister werden“, sagte mir ein Freund, ein leidgeprüfter FCK-Fan, bei Leipzigs Sprung an die Tabellenspitze Ende 2016 mit einem Ausdruck des Erschreckens im Gesicht…

Sich Abwechslung wünschen und dann am Altgedienten festhalten ist ungefähr genauso schizophren wie der „Volkssport“ HSV-Bashing. Ja, genau. Nach Tradition schreien – und dann dem HSV den Abstieg wünschen. Genau mein Humor. Tradition! Ein inflationär gebrauchter, arg strapazierter Begriff im durchgestylten Business Profifußball. Gleiches gilt für den Kommerz. In Zeiten von Nations League, aufgeblähter EURO und einer für die Topteams der UEFA-Spitzenverbände quasi idiotensicheren Champions League spielt sich die Fußball-Romantik wahrscheinlich nur noch jenseits von Liga drei ab.

Genau dort fanden sich seit dem blamablen Intermezzo des VfB Leipzig 1993/94 – immerhin die zweitschlechteste Bundesliga-Bilanz – die „traditionellen“ Klubs der Heldenstadt wieder. Fußballmeldungen aus Leipzig standen meist im Zeichen von Randale oder finanziellen Turbulenzen. „Es ist gut, dass RBL jetzt da ist, vorher konntest du mit Kindern in Leipzig nicht zum Fußball gehen, das war fast unmöglich“, sagte mir ein Taxifahrer bei meinem ersten Besuch in der Red Bull Arena das, was viele Fußballfans im Osten denken. Leipzig hat das geschafft, was den „etablierten“ Ost-Vereinen wie Dynamo Dresden, Hansa Rostock oder der 1. FC Magdeburg, einziger Europacup-Sieger der DDR, in 25 Jahren nach der politischen Einheit Deutschlands nicht gelang. Sie haben den Ost-Fußball in der Bundesliga etabliert und mit ihrem umfassenden Nachwuchs-Konzept und einer erstklassigen Infrastruktur einen Leuchtturm gebildet. Auch, wenn die Macher ein österreichischer Geldgeber, ein ebenfalls aus der Alpenrepublik stammender Coach und ein schwäbischer Sportdirektor sind. Es ist egal, woher das Know-how kommt.

Leipzig hat keine Tradition. Mag sein. Aber das hat man vom 1. FSV Mainz 05 oder von Bayer 04 Leverkusen auch behauptet, als sie 2004 bzw. 1979 in die Bundesliga kamen. Stand heute gehören aber beide Klubs zum Inventar der Liga. Sie haben ihre eigene Tradition. Leverkusen hat das Image als „Werkself“ zum Markenzeichen gemacht. Der Karnevalsklub aus Mainz lebt diese Eigenheit quasi bei jedem Tor aus – mit dem Narhallamarsch. Auch so kann man es machen. Die Leipziger werden irgendwo zwischen Dosenclub und Ostalgie ihre eigene Marke entwickeln. Wie besonnen sie mit dem teilweise menschenverachtenden Spott der Konkurrenz – und in diesem ominösen Spiel habe ich viele Bekannte beim BVB nicht mehr wiedererkannt – umgehen, hat das Spiel gegen den HSV am 11. Februar 2017 gezeigt.

Es war eine beeindruckende Trotzreaktion, die selbst neutralen Beobachtern Gänsehaut beschert hat. In der neunten Minute standen die RBL-Fans komplett auf, präsentierten ihre Schals mit einer Mischung aus Stolz und Trotz und sagen ihre Hymne: „Wir sind Leipzig“.

Die Menschen in Leipzig, ja in ganz Mitteldeutschland, lieben diesen Verein und sie rennen nicht nur einmal im Jahr ins Stadion, um Dortmund oder Bayern zu sehen. Was mir bei meinen Besuchen in Leipzig immer wieder auffällt ist die Demut und die Dankbarkeit, mit denen die Anhänger von RBL und die Menschen in der Stadt das „Produkt“ Profifußball annehmen. Es macht Spaß, tagtäglich die vielen positiven Reaktionen der Leser zu RBL-Texten zu sehen. Schon allein deshalb freue ich mich auf meinen nächsten Besuch in Leipzig gegen den SSC Neapel. Das ist, ganz nebenbei bemerkt, der Klub, der einst mit Diego Maradona 100.000 Fans ins alte Leipziger Zentralstadion lockte.

RB Leipzig gegen HSV im letzten Februar – das war ein Reporter-Einsatz, den ich nie vergessen werde. Nicht nur die Reaktion der Leipziger Fans auf die unsäglichen Proteste im Dortmund-Spiel war beeindruckend. Nein. Auch die Art und Weise, wie der Bundesliga-Dino aus Hamburg dem Emporkömmling aus Leipzig an diesem denkwürdigen Tag gezeigt hat, wo der Hammer hängt. Papadopoulos Jubel mit dickem Arm – unvergesslich! Die Heimfahrt im Reportertross im ICE mit den siegestrunkenen HSV-Fans – unbezahlbar!

Hamburg hat Leipzig genau dort erwischt, wo auch in dieser Saison die Schwachstelle des Teams von Ralph Hasenhüttl, den ich als angenehmen Zeitgenossen kennengelernt habe, liegt. Bei den Standards. Kein Team kassierte liga-weit mehr Tore nach Standardsituationen als die Roten Bullen. Wenn es dem HSV gelingt, gegen die ersatzgeschwächten Sachsen wieder in diese Lücke zu stoßen, ist wieder ein Auswärtserfolg drin. Davon bin ich überzeugt.

Sie werden lachen: Das Foto von der HSV-Welle nach dem sensationellen 3:0-Erfolg in der Red Bull Arena hat es an die Memory-Wall in meinem Büro geschafft. Und das ist auch gut so.

 

Über den Autor

Carsten Germann berichtet seit September 2002 als freier Journalist aus erster Hand über den englischen Fußball sowie als Online-Redakteur über die Fußball-Bundesliga. Für die Portale BWIN Fußball und Sportbuzzer.de (RND / Hannover) beschäftigt er sich dabei fast täglich mit RB Leipzig.

2007 erschien sein Buch Football’s home – Geschichten vom englischen Fußball im Verlag Die Werkstatt. Im Jahr 2008 schrieb er für das Buch Mit der Raute im Herzen – Die große Geschichte des Hamburger SV von Werner Skrentny und Jens R. Prüß (Verlag Die Werkstatt) mehrere Gastbeiträge. 2010 hat er sein zweites Buch im Werkstatt-Verlag veröffentlicht: Absolute Dynamite! – Fußballgeschichten aus Großbritannien. Dem Autorenteam von SPORT BILD gehört er seit August 2005 an und erstellte seitdem acht erschienene Bücher zur Fußball-WM, EURO und zur Bundesliga. Er lebt in Hamburg, ist BVB-Fan und drückt auch dem HSV die Daumen.

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